Hamburg. Ein Stück wie eine Folge aus der Netflixserie „House of Cards“, nur nicht ganz so keimfrei. Dafür erotischer und unbeherrschter.

Keine mottenzerfressene Fundusverstaubtheit, nirgends. Da ist bloß eiskalte Eleganz. Das kleine Schwarze an den Madames, schmal geschnittene Anzüge an den Messieurs, bedrohlich dröhnende Klänge, Kristalllüster, flackernde Feuerschalen. Als habe man es mit den Ritualen einer mondänen Geheimgesellschaft zu tun. Vor den Augen des Publikums entsteht ein bühnenbreiter Laufsteg im Hintergrund, düster und in scharfer Symmetrie, immer wieder knallt das Licht schmerzhaft in die Szenerie.

Der Molière, den der belgische Theatermacher Ivo van Hove mit dem absolut formidablen Ensemble der Pariser Comédie-Française zum 400. Geburtstag des französischen Dramatikers für zwei Gastspiele ans Thalia Thalia bringt, kommt alles andere als auserzählt daher. Dieser „Tartuffe“, in der 1664 von „Sonnenkönig“ Ludwig XIV verbotenen und nun erstmals rekonstruierten Originalfassung, atmet die fesselnde Skrupellosigkeit der Netflix-Politserie „House of Cards“ – nur nicht so keimfrei. Erotischer, unbeherrschter.

Thalia Theater: Christophe Montenez als Tartuffe

Und brutal. In der Titelrolle: ein manipulativer Psychopath, der sich bestens auf Machtmechanismen und die Sehnsucht der Menschen nach Unterwerfung versteht. Der vermeintlich lupenrein gottesfürchtige Tartuffe (cool und maliziös: Christophe Montenez) wird von Orgons Familie aus der Gosse gerettet, entkleidet und reingewaschen. Die Menschwerdung entpuppt sich als die Geburt eines unwiderstehlichen Monsters, das sich seinen wohlsituierten Gönner (Denis Podalydès) durch perfide Heuchelei zu formen weiß.

Tartuffe ist ein routinierter Lügner, dessen Follower (neben Orgon verfängt er auch bei dessen Mutter) sich die absurdesten Zerrbilder nur allzu gern füttern lassen. Für seinen Wahn opfert Orgon nicht nur seine Selbstachtung, sondern schließlich auch den immer verzweifelter um seine Zukunft ringenden Sohn (Julien Frison) und seine Frau (betörend: Marina Hands). Nahezu unerschöpflich scheint seine Bereitschaft, jegliche Art von Widerspruch großzügig zu übersehen.

„Tartuffe“ ist ein Lehrstück über gewissenlosen Fanatismus, dessen Urfassung der katholischen Kirche damals gar nicht gefiel, und das sich in dieser Thriller-Variante der „Komödie“ mühelos in die Gegenwart einfügt. Das Publikum am Thalia Theater ist zur deutsch übertitelten Gastspiel-Premiere hingerissen, Standing Ovations für das französische Ensemble und ihren Regisseur.