Hamburg. Orhan Pamuk stellte in Hamburg „Die Nächte der Pest“ vor. Literatur, die die Zerrissenheit zwischen West und Ost abbildet.
Hat Orhan Pamuk etwa einen Corona-Roman geschrieben? Nein, natürlich nicht: Zum einen begann der Literaturnobelpreisträger schon 2016 mit „Die Nächte der Pest“, da dachte noch niemand an die Atemwegserkrankung, die seit zwei Jahren um die Welt geht. Und zum anderen handelt der zwischen Krimi und Geschichtserzählung angesiedelte Roman von einer Pestepidemie, die sich um die Jahrhundertwende auf der (fiktiven) türkischen Mittelmeerinsel Minger ereignete.
Literaturnobelpreisträger Pamuk löst in Hamburg Unwohlsein aus
Aber klar: Als der 69-jährige vergangenen Freitag sein Buch auf Einladung des Literaturhauses im Winterhuder Magazin-Kino in Hamburg vorstellte, als die Thalia-Schauspielerin Franziska Hartmann den deutschen Text vorlas und dabei von Fieber, Erkältungssymptomen, Delirien und sich pandemieartig verbreitenden Verschwörungstheorien berichtete, da fühlte sich das Publikum im vollbesetzten Kinosaal trotz Maskenpflicht unwohl. Ansteckende Erkrankungen ähneln sich, zumindest in ihrer Dynamik, und entsprechend fasste einen der Vortrag auch unerwartet an.
Wobei die Veranstaltung, bedingt durch die Sprachbarriere, eigentlich eine gewisse Distanz beinhaltete. Hartmann las den deutschen Text in drei Etappen, der NDR-Literaturredakteur Alexander Solloch interviewte Pamuk, Recai Hallaç übersetzte simultan ins Türkische, Pamuk antwortete auf Türkisch, Hallaç übersetzte ins Deutsche – so etwas kann spröde wirken. Hier allerdings wurde die Sprödigkeit aufgehoben durch den charmanten Pamuk: ein sympathischer, älterer Herr, der auch abwegige Fragen freundlich beantwortete, dabei aber mit sanfter Ironie durchblicken ließ, was er von den Fragen hielt.
Orhan Pamuk seufzt bei Frage nach Lieblingsfußballverein
Als Solloch ihn auf eine frühere Aussage hinwies, nach der Pamuk eine „Hassliebe“ zur westlichen Moderne pflege, während die osmanisch-islamische Kultur seines Wohnorts Istanbul ein sicherer Heimathafen sei, antwortete dieser, dass er Begriffe wie „Hass“ eigentlich nicht möge, selbst beim Fußball könne er damit wenig anfangen.
Und als der Interviewer daraufhin fragte, was denn sein liebster Fußballverein sei, seufzte der Nobelpreisträger. „Als Kind war ich Fenerbahçe-Fan, aber inzwischen interessiere ich mich nicht mehr dafür.“ Dass Teile des Publikums gar nicht auf Hallaçs Übersetzung warten mussten, sondern schon während Pamuks türkischer Antwort kicherten, zeigte, dass des Türkischen Mächtige anwesend waren. Und Solloch erkannte so, dass Fußballfragen vielleicht nicht wirklich das Niveau des Abends waren.
„Die Nächte der Pest“ – Zerrissenheit zwischen West und Ost
Denn tatsächlich ist „Die Nächte der Pest“ große Literatur, die die Zerrissenheit einer Gesellschaft zwischen West und Ost abbildet. Auch wenn sich die Handlung fern von Konstantinopel auf einer kleinen Insel abspielt, schlägt die Weltpolitik immer wieder durch, in der Figur des Sultans Abdülhamid etwa, der, so Pamuk, ein großer Fan des westlichen Kriminalromans und der aufgeklärten Ermittlungsmethoden eines Sherlock Holmes gewesen sei, andererseits aber einen Staat regierte, dessen autoritärer Charakter sich nicht wegdiskutieren ließ. „Das ist eine seltsame Ironie: Einerseits liebte Abdülhamid das aufklärerische Denken, andererseits wurde unter ihm gefoltert.“
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Für Solloch war das eine Gelegenheit, sich auf den Widerspruch zwischen realer Geschichte und erfundener Erzählung zu konzentrieren, der sich durch „Die Nächte der Pest“ zieht. Pamuk erklärte diese Vorgehensweise mit Verweis auf Tolstoi: „Über Dinge, die tatsächlich stattgefunden haben, schreiben Historiker. Romanciers schreiben über das, was in ihrer Vorstellung passiert.“
Literaturnobelpreisträger politischer Gegenwartschronist
Was der Interviewer als „kleine literaturwissenschaftliche Lehrstunde“ abtat und das Thema immer weiter trieb – bis Pamuk endlich aus seiner defensiven Freundlichkeit ausbrach. „Statt weiter über Realität und Fiktion zu diskutieren, schlage ich vor, dass wir eine weitere Passage hören.“ Okay. Besser so.
Worauf der Autor das Gespräch dominierte, sich nach und nach selbst Fragen stellte und quasi Moderator und Befragter in einem wurde. „Was für Ähnlichkeiten gibt es zwischen Pest, Cholera und Corona?“ fragte er sich, um dann mit einem Umweg über Alessandro Manzoni, Daniel Defoe und Albert Camus festzustellen, dass der Umgang mit Epidemien strukturell gleich bleibt – worauf sich Pamuk als politischer Gegenwartschronist outete, selbst wenn er einen historischen Roman schreibt. Zugegeben: Spannender als die Frage nach dem liebsten Fußballverein ist das schon.
Und schließlich setzte Pamuk auch selbst den Schlusspunkt des Abends: „Danke, dass sie uns so lange zugehört haben, hier, in der wunderschönen Stadt Hamburg.“ Sprach es, ging von der Bühne und hinterließ den verdutzten Alexander Solloch alleine im Applaus.
Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest, Hanser, 696 Seiten, 30 Euro