Hamburg. Das bundespräsidiale Benefizkonzert mit Alan Gilbert und Yuja Wang am Sonntag ließ das Publikum stolz und ratlos zurück.
Ist es schon soweit? Nach wenigen, dramatischen, erschreckenden, historischen Tagen schon? Dass man eine Nationalhymne – und insbesondere die eigene – nicht mit anderen Ohren, aber völlig anderen Gedanken hört? Nachdem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Hamburgs Erster Bürgermeister sich am Sonntagmorgen auf ihre Plätze im Großen Saal der Elbphilharmonie begeben hatten, spielte das NDR-Orchester jene Portion klassisch anmutigen Haydn, die die Bundesrepublik als repräsentatives Symbol für sich angenommen und verinnerlicht hat.
Alan Gilbert dirigierte diese staatstragende Musik, die schon immer so viel mehr war als nur eine regelgetreu sortierte Ton-Abfolge von 1797. In anderen Konzerten in diesen Tagen – gerade weil sie nicht auf dem Boden der Ukraine stattfinden können – spielen andere Orchester die Hymne jenes Landes, das Russlands Präsident Putin vor wenigen Tagen von seiner Armee überfallen ließ.
Elbphilharmonie: Benefizkonzert hinterlässt Publikum begeistert – und ratlos
Alle Jahre wieder, seit Richard von Weizsäcker 1988 den Anstoß dazu gab, finden bundespräsidiale Benefiz-Konzerte statt; es dürfte dabei meistens ungetrübt und sonntagsrednerisch zugegangen sein. Der jeweilige gute Zweck war ja immer ein undiskutierbar guter, honorig. Es war alles so viel einfacher, überschaubarer, berechenbarer sowieso.
Klare Verabredungen, und an deren Ende konnte man sich rechtschaffen besser fühlen. In diesem Jahr geht eine Hälfte des Spendenerlöses durch die Kartenvereinnahmen an die Caritas-Einrichtung „Krankenstube für Obdachlose“ in St. Pauli, die andere Hälfte an Caritas-Projekte bundesweit. Das ist wichtig und löblich und unterstützenswert, natürlich ist es das.
Tschentscher freute sich über „unglaubliche Solidarität und Hilfsbereitschaft“
Bei diesem Konzert jedoch schlug Steinmeier, von der Moderatorin Sandra Maischberger auf der Bühne als erstes darauf angesprochen, anders grundsätzliche Töne an: Er blicke mit Wut und unendlicher Trauer auf diese Krise. „Wir können uns alle vorstellen, wie die Menschen in der Ukraine leiden“, sagte Steinmeier. „Putin vergießt das Blut jenes Volkes, dass er kürzlich noch Brudervolk genannt hat.“ Es sei ein Krieg beim Nachbarn unseres Nachbarn, so der ehemalige Außenminister, deshalb gehe er auch uns etwas an. „Die Welt danach wird eine andere sein. Die europäische Sicherheitsarchitektur ist zerstört. Bestenfalls muss man von vorn anfangen. Das ist eine deprimierende Aussicht.“
Tschentscher wiederum freute sich über die „unglaubliche Solidarität und Hilfsbereitschaft. Wir sind als internationale Stadt besonders nah dran“, betonte er. Schnell danach war es Zeit für die Musik.
Benefizkonzert: Yuja Wang rüttelte NDR-Orchester wach
Zweimal Beethoven folgte, und einmal Liszt. Beethoven geht und passt immer, bei solchen Anlässen gleich erst recht. Dass es nun zunächst die „Fidelio“-Ouvertüre war, einer Oper, in deren Mittelpunkt das Schicksal eines politischen Gefangenen steht, war Fügung. Ebenso die Fünfte. Dort klopft das sprichwörtliche Schicksal lediglich an die Tür, das hätte in diesen Tagen ja noch einen zivilen, halbwegs freundlichen, nur passiv-aggressiven Unterton. Bei dieser Ouvertüre hatte das NDR Elbphilharmonie Orchester seine Betriebstemperatur noch nicht gänzlich erreicht. Die Dramatik hatte Startschwierigkeiten, der Schwung lief noch nicht rund, so sehr sich Gilbert auch pulssteigernd um sachdienliche Mitarbeit bemühte.
Den Luxus gemächlichen Wachwerdens gönnte die Gast-Virtuosin ihrem Begleit-Orchester allerdings nicht mehr. Yuja Wang, momentan mit diesem Stück auf Konzertsaal-Rundreise, rüttelte das Tutti schon mit ihrem ersten Einsatz bei Liszts 1. Klavierkonzert geradezu erbarmungslos wach.
Künstlerpech: Dirigieren geht auch ohne Taktstock
„Donnern“ und „dröhnen“ wären zwei Verben, die bei anderen Gelegenheiten nicht direkt positiv besetzt wären. Und weil Wangs Finger noch schneller spielen als ihre Schatten, galoppierte sie rasant durch den ersten und ebenso den rekapitulierenden Schluss-Satz, dramatisch exaltiert, funkelnd und leidenschaftlich krachend. Es perlte, trillerte und peitschte aufs Feinste, die Flügel-Mechanik hatte etliches auszuhalten. Im Adagio verlor Wang sich dafür, genauso extrem ausgereizt, in Träumereien und weitgedehnten Rubati-Zeitlupen, die in ihrer traurigen Schönheit fast kein Ende nehmen wollten.
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Künstlerpech besonderer Art widerfuhr Gilbert danach beim Beethoven: Beim Auftakt der Fünften verabschiedete sich ein großer Teil seines Taktstocks, was blieb, war ein Stummel, so kurz wie die Zahnstocher, mit denen Gergiev zu dirigieren pflegt. Dann lieber ganz ohne, das ging auch, und umso besser, je näher das strahlende C-Dur-Finale kam, der Triumph, das Licht, der Sieg des Wahren, Schönen, Guten, gegen alle Widerstände.
Hamburger Publikum bleibt überraschend stolz zurück
Man könnte dieses Finale auch unpolitisch hören. Jetzt, gerade jetzt, geht es nicht. „I hope the Russians love their children, too“, hatte Sting 1985 in einem seiner Klassiker ein Dilemma aus der Zeit des Kalten Kriegs besungen. Tja. Zwar nicht damit, aber so endete ein begeistert bejubeltes Konzert, das sein Hamburger Publikum, zwei Flugstunden von der Hauptstadt der Ukraine entfernt, überraschend stolz und gleichzeitig hilflos und ratlos zurückließ. Es wird in diesem Jahr nicht das letzte seiner Art gewesen sein.
Der Stream des Konzerts ist in den Mediatheken des NDR-Orchesters und der Elbphilharmonie online abrufbar.