Hamburg. Nach dem Konzert im Kleinen Saal ist der Jubel des Publikums groß. Dabei wurden andere Stücke gespielt als geplant.
Quartett vollzählig erschienen, Programm geändert. Locker bleiben ist die Devise in Zeiten, in denen der Konzertbetrieb äußerlich betrachtet tut, als ginge alles seinen normalen Gang, hinter den Kulissen aber die Drähte glühen und die Künstler dankbar sind für jeden Auftritt, der tatsächlich zustande kommt.
Für die Hamburgische Vereinigung von Freunden der Kammermusik gehört das Bangen und Jonglieren derzeit genauso zum Geschäft wie für alle anderen Veranstalter. Vor wenigen Wochen erst erschien das Quatuor Ébène nur zu zweit zum Gipfeltreffen mit dem Belcea Quartet und brachte das Kunststück fertig, zwei Einspringer nahtlos zu integrieren. Das Jerusalem Quartet ist an diesem Abend im Kleinen Saal der Elbphilharmonie komplett. Einer der Musiker war nach einer Infektion gerade rechtzeitig wieder negativ getestet worden, so dass die vier aus Israel anreisen konnten.
Jerusalem Quartet verwirft Programm in der Elbphilharmonie
Nur das Programm haben sie kurzfristig umgeworfen; Corona hatte offenbar auch an der Probenzeit genagt. Es gibt also einen anderen Mozart, Schostakowitsch statt Bartók und nach der Pause wie angekündigt Tschaikowsky.
Quartett spielen an sich ist ja schon herausfordernd genug. Aber wenn man sich die Begleitumstände eines solchen Konzerts vergegenwärtigt, dann kann man über die Nervenstärke der Beteiligten nur staunen. Nicht einen Hauch von Ungewissheit, Reisestress, Erschöpfung oder bürokratischem Kleinklein bringen die vier auf die Bühne mit. Stattdessen setzen sie ihr Publikum mit ihrer Konzentration und Energie einen Abend lang schier unter Strom.
Geige setzt einen Gegenpol zur üblichen Schlankheitsästhetik
Dem D-Dur-Quartett KV 575 von Mozart drücken sie vom ersten Takt an ihren Stempel auf. Alexander Pavlovsky ist ein rechter Primarius, sehr präsent dank seiner voll und warm timbrierten Pressenda-Geige und eines intensiven Vibratos von unbekümmert romantischer Süße. Wie anders klingt das als die übliche Schlankheitsästhetik! Aber bevor irgendjemand auf die Idee kommt, hier wäre ein Altherrenverein am Werk, überraschen die vier mit der Frische der Tempi und einigen entschiedenen rhythmischen Extravaganzen, raffen hier und schärfen dort. Unerhört wach und voller Spielwitz ist ihr Mozart. Sie trauen sich was, und das packt die Hörer spürbar.
Scharfer Schnitt. Das 8. Streichquartett c-Moll von Schostakowitsch wirkt wie ein Kommentar zur politischen Weltlage. Geschrieben unter dem Eindruck von Berichten über die Zerstörung Dresdens im Februar 1945, meint man die Fliegerangriffe zu hören. Es kracht und splittert, und überall webt der Komponist die Tonfolge D-Es-C-H ein, seine Signatur, Ausdruck seines zerquälten Inneren. Das Jerusalem Quartet findet für jede Nuance eine andere Farbe, Temperatur, Textur. Mal klingt das Ensemble berückend homogen und dann wieder gerade nicht, sondern birst vor Expressivität.
Tschaikowsky wirkt spröde und fragmentiert
Ausgerechnet Tschaikowsky, der russische Romantiker par excellence, zeigt sich in seinem Streichquartett Nr. 1 D-Dur eher von der spröden Seite. Oft wirkt die Musik fragmentiert – was die Musiker mit plastischer Phrasierungskunst kontern. Und das berühmte Andante cantabile hat Mitsing-Qualitäten.
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Atemlos hat das Publikum gelauscht, nun ist der Jubel so groß, wie er hinter den Masken sein kann. Die Musiker bedanken sich mit zwei charmant anmoderierten Zugaben aus der Werkstatt des Quartettschaffens von Haydn und Beethoven. Was für ein Geschenk.