Hamburg. Lesung mit Musik: Christian Brückner liest aus dem Melville-Klassiker, das Hamburger Quartett liefert dazu den fesselnden Soundtrack.
Ein sanfter Gong. Rascheln. Dumpfe Schläge. Schrilles Geklingel. Eine Sirene. In der Elbphilharmonie wächst eine Kulisse aus Geräuschen. Die vier Musiker von Elbtonal Percussion, alle schwarz gekleidet, stehen hinter einer breiten Phalanx an Trommeln, Marimbaphonen, Becken, Gongs und anderen Schlaginstrumenten und erzeugen ein rasch wechselndes Kaleidoskop an Geräuschen, die nach Hafen klingen. Dabei agieren sie Hand in Hand, exakt aufeinander abgestimmt. Ein riffartiges Getrommel beendet dieses zehnminütige Intro zu „Moby Dick“.
„Nennt mich Ishmael“, beginnt Christian Brückner Herman Melvilles Romantext, doch der Übergang klappt nicht perfekt, denn sein erster Satz geht im begeisterten Beifall des Publikums unter. Das ist aber auch schon die einzige Kleinigkeit, die an diesem mitreißenden Abend nicht funktioniert.
Elbphilharmonie: Elbtonal Percussion liefern Soundtrack zu „Moby Dick“
Brückner, die deutsche Stimme von Robert De Niro und anderen Hollywood-Stars, hat vier lange Passagen aus Melvilles 1851 erschienenen Meisterwerk ausgewählt: die philosophischen Überlegungen von Melvilles Erzähler Ishmael über das Meer und den Walfang, die Beschreibung des Schiffes „Pequod“ und seines Kapitäns Ahab sowie seiner Rachegelüste gegenüber dem weißen Wal und schließlich die Jagd auf das Monster der Meere.
Brückner, inzwischen 78 Jahre alt, ist ein Meister der Rhythmisierung, der Betonung und der Pausen. Er schafft es, Melvilles ausufernde Betrachtungen zu einem spannenden Hörspiel zu machen und steigert sich immer weiter in die Obsession und den Wahnsinn von Ahab hinein, der seine Mannschaft aufputscht. „Die letzten Flammen der Angst blase ich aus!“, ruft er mit sich fast überschlagender Stimme, bevor die wilde Hatz auf den Leviathan beginnt.
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Moby Dick-Lesung: „The Wave“ bildet furiosen Schlusspunkt
Dass dieser Melville-Abend so hervorragend funktioniert, liegt auch an dem Hamburger Quartett Elbtonal Percussion. Es hat Stücke ausgewählt, die ideal zur Stimmung des Seefahrer-Romans passen wie Keiko Abes „The Wave“ oder Jovan Zivkovics „Trio per Uno“. Eigene Kompositionen wie Stephan Krauses „Li“, ganz zu Anfang gespielt, finden sich ebenso wie Jan-Frederick Behrends Bach-Bearbeitung, die er „Toccata ohne Fuge“ nennt.
Nach der Pause wechseln sich Sprecher und Ensemble nicht mehr ab: Elbtonal Percussion unterlegt die Lesung mit einer Bearbeitung von Radioheads „Daydreaming“. „Nimm mein Eisen“, ruft Brückner und bleibt mit wurfbereitem Arm wie eingefroren stehen, während Behrend, Krause, Stefan Schreiber und Francisco Rodriguez mit „The Wave“ einen furiosen Schlusspunkt hinter Melvilles Text setzen. Für das konzentriert zuhörende Publikum ist der letzte Trommelwirbel wie eine Befreiung. Es springt aus den Sesseln und bejubelt Musiker und Sprecher.