Hamburg. Der kanadische Pianist schien den Großen Saal in eine Art Salon zu verwandeln – und er offenbarte seinen Zugang zu Chopin.

Die geistige Heimat von Chopins Klaviermusik ist der Künstlersalon des 19. Jahrhunderts. Ein privater Rahmen, ganz intim, mit einer Handvoll Gleichgesinnter im Raum. Um so eine Atmosphäre zu schaffen, ist die Laeiszhalle eigentlich viel zu groß. Beim Soloabend von Jan Lisiecki schien sich der Saal trotzdem in eine Art Wohnzimmer zu verwandeln. Dafür kam vieles stimmig zusammen.

Die Beleuchtung, die Saal und Bühne in ein schummriges Licht tauchte. Ein hochkonzentriert mucksmäuschendes Publikum. Und vor allem natürlich ein Pianist, der dieses Publikum mit seinem dichten Spiel in den Bann zog – so fokussiert und ganz bei sich, als gäbe es gerade nur ihn und den Flügel und sonst nichts auf der Welt.

Laeiszhalle: Jan Lisiecki offenbart persönlichen Zugang zu Chopin

Für sein Recital hatte Lisiecki 23 Etüden und Nocturnes von Chopin ausgewählt und zu einem zweiteiligen Programm verwoben. Es folgte einer ganz eigenen Dramaturgie, die harmonischen Verwandtschaften und Charakterwechseln nachspürte. Damit demonstrierte Lisiecki, wie Chopin manchmal ein und dieselbe Tonart von verschiedenen Seiten beleuchtet. Nach der rauschhaften Etüde in C-Dur beschwört das C-Dur-Nocturne eine ganz andere, viel dunklere Stimmung. Das Nocturne in E-Dur kontrastiert seinen verträumten Anfang mit einem aufgewühlten Mittelteil, während die Etüde in E-Dur ihr trübes Eingangsklima aufhellt.

Mit diesem Reichtum an Facetten und Bildern offenbarte Jan Lisiecki seinen persönlichen Zugang zu Chopin: er begreife die Stücke als eine „Sammlung an Gedichten“, wie er im Programmheft erklärt, und jedes erzähle eine eigene Geschichte.

Jan Lisiecki weiß, wie man auf dem Flügel singt

Der kanadische Pianist nutzt seinen Klangsinn, seine Musikalität und seine technische Brillanz, um diese Geschichten und kleinen Szenen zum Leben zu erwecken. In der cis-Moll-Nocturne malt er mit Basstönen und reichlich Pedalgebrauch finstere Wolken, aus denen erst spät, aber dann umso überwältigender die Sonne hervorbricht. In der Etüde in Es-Dur streut Lisiecki musikalische Zuckerstreusel in die Tasten. Dagegen versenkt sich die posthume cis-Moll-Nocturne in einen Zustand der Melancholie – vom Pianisten ergreifend in Töne gefasst –, der bei Chopin zur Grundeinstellung gehört.

Was viele der Stücke außerdem eint, ist ihre Nähe zum Gesang. Chopin war begeisterter Operngänger und Belcanto-Fan. Diese Liebe zum Vokalen ist in seine Klaviermusik eingeflossen, die ihren Interpreten oft ariose Passagen in die Hände legt. Und Jan Lisiecki weiß, wie man auf dem Flügel singt. Er lässt die Melodien atmen und nimmt sich Zeit, jeden Ton auszukosten, ohne den Bogen aus dem Blick zu verlieren.

Lisiecki kann auch Pranken ausfahren

Genau so differenziert wie das Rubato-Spiel ist seine Anschlagskunst. Der Pianist erkundet einen selten zu hörenden Reichtum an Klangnuancen, gerade im Piano-Bereich, unterstützt von der Technik der harmonischen Dämpfung, mit der die Firma Steinway ihre Konzertflügel der neueren Generation ausstattet.

Der Sinn fürs Zarte passt zur äußeren Erscheinung. Jan Lisiecki ist ein schlanker, feingliedriger Mann, der fast ein bisschen schüchtern auftritt. Mit der großen weißen Fliege zum schwarzen Anzug sieht der 26-Jährige sogar noch jünger aus als er tatsächlich ist. Er wirkt wie das sanfte Gegenbild eines Tastenlöwen.

Aber der Eindruck täuscht. Lisiecki kann auch Pranken ausfahren. So wie am jeweiligen Ende der beiden Programmteile, an denen er mächtig zulangt. Die c-Moll-Nocturne steigert sich vom feierlichen Ernst in packende Dramatik. Nach und nach beugt sich der Pianist immer weiter nach vorne, während er fast vom Klaviersessel aufsteht, und meißelt das Forte mit unbändiger Kraft in die Tasten. Da bekommt der Klang eine physische, beinahe geräuschhafte Dimension, die man körperlich spüren kann.

Laeizhalle: Pianist Jan Lisiecki erntet Standing Ovations

Ähnlich überwältigend die Etüde in c-Moll, ganz am Schluss, in der Lisiecki – der keine Sekunde an Spannung verliert – noch einmal drei bis vier Energieschübe zuschaltet. Als hätte er in die Steckdose gefasst. Atemberaubend! Riesen-Jubel und Standing Ovations, vollkommen verdient. Da ist kurz mal Popkonzert-Stimmung im Saal.

Aber mit der Zugabe kehrt Jan Lisiecki in den Salon zurück. Mit einer bittersüßen Nocturne von Paderewski, wunderbar innig gespielt. Der leise Schlusspunkt eines Abends, mit dem sich Lisiecki, noch eindringlicher als auf seiner aktuellen CD, als einer der derzeit stärksten Chopin-Interpreten positioniert.