Hamburg. Für das Klassiker-Spektakel mit Philipp Hochmair und „Die Elektrohand Gottes“ heute Abend auf Kampnagel gibt es noch Restkarten.

Wie von Ferne ertönt ein leises Klacken, dann ein Sound von Metall. Die Bühne der großen, mit Abstand ausverkauften Kampnagel-Halle ist leer. Ein paar Kerzen glimmen am Boden, gruppiert um allerlei musikalische Gerätschaften. Aus dem Zuschauerraum nähert sich Philipp Hochmair, geht auf die Bühne und ruft, noch immer mit einem Rohr perkussiv auf Metall schlagend, beschwörend aus: „Schiller, wo bist du? Komm zu uns!“

Als er beginnt, die Schiller-Ballade „Der Ring des Polykrates“ zu rezitieren, wirkt er im orangefarbenen Arbeitsanzug mit Tarnjacke und Helm immer noch wie ein Bühnentechniker, der Dinge anordnet, den Sound von herumliegenden Gegenständen testet, nach dem Rechten sieht.

Schnell wird deutlich, dass wir es hier mit einer etwas anderen Klassiker-Messe zu tun haben. Anfangs ist es eine Trockenübung. Nach und nach gesellen sich die drei Musiker der Band Die Elektrohand Gottes dazu. „Noch keinen sah ich fröhlich enden,/Auf den mit immer vollen Händen/Die Götter ihre Gaben streun.“ Allmählich füllt die sprachliche Urgewalt des Dichters der Weimarer Klassik den Saal, veredelt von fein anschwellenden, experimentellen Elektronik-Klängen zum „Schiller Balladen Rave“. Und erinnert uns mit großer Eindringlichkeit an die Unbeständigkeit des Glücks.

Hochmair ist für die „Schiller Balladen Raves“ ein Glücksfall

Es geht also um Friedrich Schiller (1759–1805). Jeder hat eine Meinung zu dem Dichter, dessen Theatertexte wie „Die Räuber“ oder „Die Jungfrau von Orléans“ verlässlich auf den Theater-Spielplänen der Republik zu finden sind und universell Gültiges über das menschliche Wesen erzählen – auch wenn ihr Pathos mitunter etwas unzeitgemäß wirkt. Hier geht es allerdings eher um eine Klassiker-Huldigung aus dem Geist des Rock 'n' Roll heraus. Um ein Sprach- und Geräusch-Konzert mit einer Prise Fluxus. Auch wenn Philipp Hochmair natürlich Schauspieler ist. Vielen Hamburgern zudem vertraut als langjähriger Protagonist im Ensemble des Thalia Theaters. Seit einigen Jahren zieht es ihn eher auf die TV- und Kinoleinwände. Zum Beispiel für das hochgelobte TV-Historiendrama „Die Wannseekonferenz“.

Doch Hochmair drängt es auch immer wieder auf die Bühne, was im Fall des „Schiller Balladen Raves“ ein echter Glücksfall ist. Bricht er doch die bekannten lyrisch-epischen-Dichtungen Schillers kunstvoll in einem musikalisch-performativen Vortrag auf. Hochmair eignet sich die Verse mit höchster Präzision und expressiver Kraft an, um sie dann gemeinsam mit seiner Band durch eine Art Text-Klang-Maschine zu drehen. Heraus kommt etwas sehr Eigenständiges, Bewegendes, Ergreifendes.

Man lauscht diesen aus der eigenen Schulzeit vertrauten Zeilen, nimmt ihren Inhalt neu wahr und überlässt sich einem spannungsgeladenen Sprachrausch zu Industrial-, Post-Rock- und Techno-Klängen.

Beim Ausflug zu Goethe wird es dramatisch

Belustigt lauscht man dem fast heiteren, munteren Geschehen in „Der Handschuh“, das vom Mut eines Mannes gegenüber einem Löwen und dem Versuch, einer Herzensdame zu gefallen, erzählt. Zu einem frühen Höhepunkt des Abends gerät „Die Bürgschaft“, eine berührende Geschichte von Freundschaft und Treue, in der Möros, dem die Hinrichtung droht, seinen Freund Selinuntius als Bürgen bei dem Tyrannen Dionysios zurücklässt, um seine Schwester zu verheiraten: „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich/Möros, den Dolch im Gewande“.

Dann wird es noch düsterer mit einem Ausflug zum zweiten großen Dichter der Klassik: Johann Wolfgang von Goethe und seiner von märchenhafter Naturmystik durchdrungenen Ballade „Der Erlkönig“. Die tragische Geschichte vom Vater, der mit seinem verängstigten, halluzinierenden Kind durch die Nacht reitet, erhält, mit Techno-Rhythmen verstärkt, in der Präsentation Hochmairs höchste Dramatik.

Hochmair vollbringt eine Meisterleistung

Dass dieser zweistündige Balladen-Rausch so gut funktioniert, liegt auch daran, dass Hochmair sich ganz und gar mit Körper und Seele in die Performance wirft. Jede Zelle steht unter Hochspannung. Allein diese Versmassen zu bewältigen ist eine Meisterleistung. Noch immer wankt er, ganz Bauarbeiter, über die Bühne, entblößt bald den Oberkörper und umwickelt sich mit Absperrband. Zwischen zwei Mikrofonen hin und her wechselnd, ständig neue Zigarren entflammend, greift er gelegentlich zum Megafon, um die eigene Stimme zu verfremden.

Dann wieder sampelt er seine Worte und stapelt Wiederholungen aufeinander. Die Bühne mit einer Hand-Maschine einnebelnd, tanzt er bei längeren Instrumental-Passagen minutenlang selbstvergessen, als wäre er der einzige Gast auf seinem eigenen Rave. Zu Schillers „Der Taucher“ kippt er sich auch mal eine Flasche Bier über den Kopf und wirft sich wie vom Grund des Meeres hinabgesogen auf den Bühnenboden.

Die Musiker der Dresdner Band Die Elektrohand Gottes stehen wie einst ihre Kollegen von Kraftwerk stoisch hinter ihren Instrumenten.
Die Musiker der Dresdner Band Die Elektrohand Gottes stehen wie einst ihre Kollegen von Kraftwerk stoisch hinter ihren Instrumenten. © Stephan Brückler/Kampnagel

Die Musiker der Dresdner Band Die Elektrohand Gottes, der Multiinstrumentalist Rajko Gohlke, der Gitarrist Tobias Herzz Hallbauer und der Elektro-Klangkünstler Jörg Schittkowski stehen derweil in Arbeits-Einteilern wie die Kraftwerk-Musiker hinter ihren aufgereihten Tasten- und sonstigen Instrumenten und verziehen keine Miene. Stoisch lassen sie dabei feinste und sehr finstere elektronische Klangflächen ineinanderfließen. Da säuselt das Theremin, ein Fahrrad wird mit einem Stab bearbeitet, eine Gitarre mit dem Geigenbogen traktiert. Anschwellende Techno-Rhythmen gesellen sich hinzu, dramaturgisch geschickt auf einen ekstatischen Höhepunkt zutreibend.

Den eindrucksvollen Schlusspunkt setzen Philipp Hochmair und Die Elektrohand Gottes mit dem längsten aller Schiller-Gedichte: „Das Lied von der Glocke“. Die bürgerliche Arbeitsmoral und freier Selbstbestimmung verpflichteten Verse richteten sich gleichwohl gegen anarchische Auswüchse der Französischen Revolution. Zu immer drängenderen Klängen und verzerrter Gitarre werden sie von Hochmair sprachlich aufpoliert vor Videobildern von Industrieanlagen und Baukränen zu einem Literatur-Parforceritt und grandiosen Finale.

Und wenn es heißt: „Jedoch der schrecklichste der Schrecken,/Das ist der Mensch in seinem Wahn“ sind Assoziationen an unsolidarische Verwerfungen der Gegenwart nicht weit. Am Ende ist man wie durch einen Maschinenwolf gedreht, rundgeflext und weich gespielt und doch voller Euphorie. Die Performer verlassen das Schiller-Universum. Und zurück bleibt ein glückliches Publikum.

Philipp Hochmair und Die Elektrohand Gottes: „Schiller Balladen Rave“ weitere Vorstellung So 6.2., 19.30 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de