Hamburg. Fast anderthalb Jahre nach der gestreamten „Geistervorstellung“: „Geschichten aus dem Wiener Wald“ erstmals live vor Publikum.

Dürre Baumzweige hängen wie Trauerweiden von der Decke. Ein paar Kirchenbänke stehen aufgereiht. Dazwischen ein Waschbecken und ein WC. Ein fieses Kichern und Keckern ertönt. Dann wieder ein Knistern und Häckseln von Zweigen, später Wasserrauschen (Musik: Fabian Kalker). Die Stimmung in Heike M. Goetzes Version von Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ist im Deutschen Schauspielhaus gespenstisch.

Nachdem sie Anfang November 2020 pandemiebedingt als erste Hamburger „Geistervorstellung“ per Live-Stream ohne Publikum über die Bühne gehen musste, erfährt diese Inszenierung nun, ein Jahr und drei Monate verspätet, eine echte, analoge Premiere vor Publikum. Natürlich lassen sich beide Formen nicht vergleichen, statt ausgewählter Close-Ups ist nun wohltuend die Totale zu sehen.

Theaterkritik: Personal schleicht ermattet herum

Und neben der Präsenz des Ensembles ist endlich auch die Wirkung des grandiosen Raumes wieder zu spüren, der den Eindruck des Albtraumhaften und Gespenstischen verstärkt. An verrohten, mitleidlosen Gestalten herrscht in dem Horváth-Stoff von 1931, in dem er eine dem Untergang geweihte Welt beschrieb, wahrlich kein Mangel.

Minutenlang schleicht das weitläufig verteilte Personal ermattet herum – von Goetze, die auch Bühne und Kostüme verantwortet, unkenntlich gemacht, in einen gemusterten Stoff-Mix verpackt und die Gesichter hinter Tüchern verborgen. Ihrer Mimik beraubt, werden die Schauspielerinnen und Schauspieler zu Zombie-Puppen in einer Szenerie, in der das Milieu zumindest äußerlich aufgelöst ist. Oskar (Jan-Peter Kampwirth) zieht eine Schweinehälfte an den Bühnenrand und bewacht sie wie eine Trophäe.

„Niemals die Autorität verlieren. Abstand halten."

Marianne (Eva Maria Nikolaus) ist von Anfang an vom Leben erschöpft. Schlaff hängt sie in der wenig Trost versprechenden Kirchenbank, wenn sie sich nicht gerade einen Weg durch die Zweige kämpft. Doch ihr Vater, der Puppenklinik-Inhaber Zauberkönig (Josef Ostendorf in Tigerprint) findet seine Socken nicht. Seit dem Tod der Mutter muss sie ihm auch die dienende Frau ersetzen. „Niemals die Autorität verlieren. Abstand halten. Patriarchat, kein Matriarchat“, keift er. Da verspricht zunächst sogar die arrangierte Vernunftehe mit dem schwächelnden Metzger Oskar eine Fluchtmöglichkeit.

Doch der verbringt den Verlobungstag auf der Keramik. Da hat der leichtlebige Nichtsnutz und routinierte Verführer Alfred (Daniel Hoevels) leichtes Spiel bei der am Waschbecken ihren hellen Sopran schwingenden Marianne. „Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“ Wenn Marianne und Alfred in einem angedeuteten gemeinsamen Bad ihre Arme schwingen, entsteht ein vermeintlicher Gleichklang, der sich dann doch nicht einlösen wird.

Entkernte Bewusstseinsträger im Schauspielhaus

Alfred ist bei Hoevels ein verantwortungsloser moralisch Verkommener, dem die Liebe nun mal so zustößt. Marianne verwechselt ihn fatal mit der Chance für das lang ersehnte neue Leben. Dafür verlässt sie Oskar, und auch Alfred lässt die reife Tabak-Trafikantin Mathilde (Julia Wieninger) links liegen, die sich bald darauf dem stramm rechten Jura-Studenten Erich (Maximilian Scheidt) an den Hals wirft.

Die Figuren wirken wie entkernte Bewusstseinsträger. Mit emotionsloser Drastik deklamieren sie die unerbittlichen Horváth-Sätze. Wenn ein paar Melodie-Fetzen von „An der schönen blauen Donau“ herüberwehen, klingen sie in ihrer Volkstümlichkeit wie aus der Zeit gefallen. Vieles ist schwer auszuhalten an diesem Klassiker des modernen Dramas.

Harte Schnitte und Brüche in der Inszenierung

Die Frauenfiguren sind verstrickt in desaströse Männer-Beziehungen. Diese Zumutungen erspart auch die Inszenierung dem Betrachter nicht. Dabei entwickeln gerade Wieningers Mathilde und Eva Maria Nikolaus’ Marianne in all dem Übel doch eine spürbare Kraft zur Selbstbehauptung, Die vor sich hin kriselnde Männer-Gesellschaft erweist sich am Ende trotzdem als stärker.

Es gibt gleich mehrere harte Schnitte und Brüche in der Inszenierung. Der Härteste vollzieht sich am Ende, wenn das Ensemble sich mit Kopfhörern zum ausschweifenden Totentanz aufschwingt, während im Vordergrund die nunmehr unmaskierte Marianne eine Tanzeinlage der Verzweiflung hinlegt – der soziale Abstieg zur Varieté-Tänzerin ist stark gerafft. Am Ende landet sie im Gefängnis, hält das von Alfred empfangene, nun aber mit Blut bespritzte Kind, mit dem sie in dieser Gesellschaft keine Zukunft hatte, in einer erschütternden Szene innig im Arm. Bevor der Abend sehr abrupt und ohne Hoffnung endet.

Theaterkritik: Figuren ihrer Menschlichkeit beraubt

Die Regisseurin findet einen interessanten, formal konsequenten Zugang zu dem Horváth-Stoff, den sie als Demaskierung des Patriarchats erzählt. Klug speist er sich auch aus Elementen der bildenden Kunst, bleibt dabei allerdings etwas hermetisch.

Die Figuren wirken wie ihrer Menschlichkeit beraubt. Stimme und Sprache sind das Zentrum und entfalten Kraft und Dringlichkeit. Die Atmosphäre bleibt folgerichtig gespenstisch und brutal bis zum bitteren Ende. Man hätte dem Ensemble dennoch gerne in die schweißnassen Gesichter geschaut, die sie erst zum Schlussapplaus enthüllen.

„Geschichten aus dem Wiener Wald“ 30.1., 18 Uhr, 9.2., 20 Uhr, 24.2., 20 Uhr, 30.3., 20 Uhr Dt. Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de