Hamburg. Teodor Currentzis und sein Orchester musicAeterna trauen sich an Schostakowitschs „verfluchte Vierte“ – und ernten enormen Beifall.
Mit einem ordentlichen Erdbeben anfangen und sich dann langsam steigern. Was bei Kino-Filmen als goldene Regel zur Aufmerksamkeitsmaximierung schon nicht verkehrt ist, kam auch bei dem Konzert zum Einsatz, mit dem sich Teodor Currentzis und sein musicAeterna-Orchester als Charisma-Riesen im Spielplan der Elbphilharmonie zurückmeldeten.
Zwei Werke „nur“ lagen an den beiden Abenden dieses Gastspiels auf den Notenpulten, davon eines eine frische Maßarbeit des serbischen Komponisten Marko Nikodijević, einer neuen Currentzis-Idee folgend, große Repertoire-Klassiker jeweils mit einem zeitgenössischen Werk zu kombinieren. Nikodijević’ „parting of the waters into heavens and seas / secundus dies“, als „Toccata für Orchester“ nur unzureichend klassifiziert, begann dann auch mit drei dröhnenden Tutti-Schlägen, saftig in den Klangraum hineingedonnert, mit geradezu alttestamentarischer Wucht, als Verweis auf die biblische Schöpfungsgeschichte.
Danach folgte eine kurzes, einfallsreich schillerndes Themenwabern, Klangfarbenplätschern und Effektrauschen, das sich kreuz und quer durch den großen Orchesterapparat zog. Eindrucksvoll und absichtslos zugleich, aber damit nur ein bescheidenes Vorglühen für das, was folgen sollte.
Elbphilharmonie: Currentzis traut sich an die „verfluchte Vierte"
Schostakowitschs Vierte, die „verfluchte Vierte“. Die 1936 unter unklaren, aber eindeutig unguten Umständen kurz vor ihrer Uraufführung aus dem realsozialistischen Rampenlicht genommen wurde, sicherheitshalber. Stalin persönlich hatte sich kurz zuvor über Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth“ und ihre vermeintliche Systemverachtung in Rage gewütet. Zu sehr mit diesem todbringenden Feuer spielen wollte der in Ungnade fallende Tonkünstler in dieser Misere nicht; die Premiere von Opus 43 fand erst 1961 statt, acht Jahre nach dem Ableben dieses sowjetischen Diktators.
Unter den 15 Sinfonien ist diese auch deswegen vielleicht die scharfkantigste, verzweifeltste, widerborstigste, so sehr wie keine andere von manisch taumelnden Episoden durchzogen. Sie verlangt nicht nur ein Riesen-Orchester, rund 110 Stimmen und jede Menge Höchstschwierigkeiten, sondern auch Nerven aus Stahl vom Dirigenten, um darin nicht erhobenen Hauptes unterzugehen, weil der Druck so immens ist.
Currentzis war ein Fels in einer Brandung
Die hatte Currentzis, von Anfang an. Und – was genau richtig ist – er sah und deutete das Stück als nahe Verwandte der späten Sinfonien von Mahler, auf den Schostakowitsch ja ohnehin selbst mehrfach durch Andeutungen und kleine Zitate verwies. Weltschmerz satt also, Verzweiflung und Sarkasmus, der gut einstündige Marsch auf der Rasierklinge beginnt schon im Kopfsatz, mit dem ersten krachenden Losstürmen. Weiter, nur weiter.
Vom angeblichen, penetrant selbstverliebten Show-Dirigat, das ihm gern und oft vorgeworfen wird, war Currentzis auch bei diesem Stück weltenweit entfernt. Currentzis war ganz unbedingt ein Fels in einer Brandung. Von einer Passage zur anderen verwandelte er sich unablässig, war eben noch ein Dompteur, der das Bestialische energisch bändigte, dann der empathische Szenen-Former, der den vielen großen, heiklen Instrumental-Soli allen Raum zum Atmen und Glänzen gab.
Wenn es alptraumhaft fahl zu werden hatte, wie am Endes des Mittelsatzes, als nur noch etwas klapperndes Schlagwerk die Uhr des gequälten Untertanen-Daseins ticken ließ, beschönigte Currentzis das nicht zum niedlichen Effekt, sondern entblößte es als die x-te Panik-Attacke in dieser Sinfonie, die es darstellt.
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Enormer Beifall für Currentzis in der Elbphilharmonie
Wie viel miteinander rang, erkannte man am Dauertänzeln von Konzertmeister Afanasy Chupin, dem blondmähnigen Alter ego des Chefs, der neben ihm wippte und wogte und wahrscheinlich am liebsten eine Runde durch die Streicher-Reihen gedreht hätte, um sie noch intensiver zu führen. Aber: Das hier war viel zu ernst, viel zu fundamental, dabei macht man keine oberflächlichen Maestro-Mätzchen. Das Tutti – alle, die es instrumentenbedingt können, standen – folgte dieser Linie konsequent. Beim Überforderungs-Ausmaß dieser Sinfonie sollte es eh niemanden auf den bequemen Stühlen halten.
Die Vierzehnte nimmt keine Gefangenen, Currentzis entlarvte ihre Wut, ihre Grotesken und ihre Vielbödigkeiten, indem er alles ständig bis millimeterkurz vor die Schmerzgrenze ausreizte. Und als wären solche Eruptionen mal eben nebenbei zu regeln und im Griff zu behalten, drehte er im größten Getöse den Zehner-Lautstärkeregler auf gepflegte 14. Weil es sein musste. Gebannte Stille nach dem ätherischen Versterben mit Celesta-Gezirpe und düsterem Streicher-Grundrauschen, dann brach enormer Beifall los. Zu Recht. Man muss jetzt lange suchen, bis man ein Orchester und einen Dirigenten findet, der Schostakowitsch-Sinfonien so fein arbeitet und gleichzeitig so erbarmungslos von der Kette lässt wie Currentzis und seine ihm treu ergebene Tutti-Truppe.
Konzert: 2.4. 2022: SWR Symphonieorchester, mit Antoine Tamestit (Viola): Werke von Brahms und Nikodijevic, Elbphilharmonie, Großer Saal. Vom 14. bis 16.4. 2022 ist in Hamburg eine Residenz-Phase von Currentzis und musicAeterna geplant, die nicht nur zwei Aufführungen von Beethovens Neunter umfasst, sondern auch interdisziplinär angelegt werden soll. Das genaue Programm steht derzeit noch nicht fest, es sind z.B. Meisterklassen, Filmvorführungen, Education-Veranstaltungen und Foto-Ausstellungen im Gespräch. Die Hamburger Termine sollen Etappe einer internationalen Residenz-Reihe sein, mit Folge-Präsenzen in Paris, New York und Tokio.