Hamburg. Dirigiert von Kent Nagano und inszeniert von Dmitri Tcherniakov, hatte Richard Strauss’ „Elektra“ in Hamburg Premiere. Über das Stück.

Übrigens, Überraschung, alle Wagnerianer müssen jetzt ganz tapfer sein: Brünnhilde ist nur eine ihm zugelaufene Adoptivtochter von Wotan und gar nicht die Lieblings-Walküre von seinem eigenen Göttervater-Fleisch und -Blut. Kein Wunder, dass sie ständig nicht tut, was der autoritär überforderte Speerschwenker von ihr verlangt. Und Don Giovanni, der fährt final auch gar nicht in die Hölle, ach was.

Der hat sich diese Szene nur zwischen zwei Dates ausgedacht, während er Vernasch-Pläne für die nächsten 1003 Spanierinnen schmiedet. Was das alles mit der Neuinszenierung von Richard Strauss’ „Elektra“ zu tun hat, die mit einem Jahr Corona-Verspätung nun endlich ihren Weg in den Staatsopern-Spielplan und vor LivePublikum fand, mitsamt komplettem Riesen-Orchester im Graben, dirigiert vom Generalmusikdirektor Kent Nagano und inszeniert von Dmitri Tcherniakov? So einiges.

Staatsoper Hamburg: Tragödie wurde entkernt

Denn der Regisseur Tcherniakow gönnte sich, als Schlüssel-Szene des archaisch blutgetränkten Finales, eine reichlich abstruse Volte in seiner „Elektra“-Erzählung, die nichts mit den Vorgaben des Hofmannsthalschen Librettos zu tun hat, das so schlecht ja nun wirklich nicht ist. Und an das man sich (bei aller Liebe zur Ausdeutungsfreiheit der Kunst als Kunst) im Kern gern halten dürfte, wenn es um zentrale Motive und Personenkonstellationen geht, die jeder Oper ihren Plot-Brandbeschleuniger liefern, und erst recht dieser.

Mit dieser einen Hauruck-Pointe – die aber nicht verraten werden soll, um bis dorthin den Spaß an der gelungenen und oft heftig zupackenden Inszenierung nicht vorschnell zu nehmen – entkernte die Regie die Tragödie geradezu. Die Regie befreite das Drama um eine selbstzerstörerische Dynastie im alten Griechenland unnötigerweise von einer ihrer wichtigsten Merkmale: der guten alten eigenhändigen Blutrache, bevorzugt unter sehr nahen Verwandten. Kann man machen. Aber dann ist es halt verkehrt.

Hofmannsthal wünschte sich sandalenfreies Bühnenbild

Richtig war bis zu diesem fragwürdigen Missgriff sehr viel. Das begann mit dem Bühnenbild, komplett sandalenfrei, wie es Hofmannsthal für seine „Elektra“ gewünscht hatte, vom antiken Mykene, etliche Jahre nach dem Trojanischen Krieg, in eine leicht verlebte Altbau-Villa mit Flügel und Zier-Bücher-Regalen verlegt, der man so oder sehr ähnlich auch in Top-Lagen an der Außenalster oder im dick vergoldeten Eppendorf begegnen könnte. Unter dem bourgeoisen Altbau-Stuck herrschte offenkundig Stützstrumpf-Zwang für alle Frauen, denn nicht nur die Mägde in der Eröffnungsszene, auch die arg graumäusig verkleidete Chrysothemis (Jennifer Holloway) trugen orthopädisch aufgerüsteten Matronen-Schick.

Extra schlimm erwischt hatte es in dieser Hinsicht die Herrin des Hauses, Klytämnestra (Violeta Urmana). Geschmeideüberladen wie ein Weihnachtsbaum, mit einer üblen Fussel-Frisur aus dem Fundus des Box-Promotors Don King, war sie nur noch das skurrile Zerrbild einer Herrscherin, die besonders gern über Leichen geht, wenn sie aus ihrer Familie stammen.

Elektra fiel aus dem Frauchen-Schema

Aus diesem Frauchen-Schema fiel Aušriné Stundytés Elektra so ganz und gar. Im letzten Sommer hatte Stundyté bei den Salzburger Festspielen in Krzystof Warlikowskis kalt glühender Inszenierung in der Felsenreitschule eine erbarmungslose Rächerin gegeben (und noch mehr als hier an der Dammtorstraße mit den brachialen Anforderungen der Partie zu kämpfen gehabt).

Nun, in Hamburg, war sie die offenkundig chronisch verwirrte Außenseiterin in der schwer dysfunktionalen Familie. Sie trug nicht nur Hemd und Hose des von der Mutter und ihrem Lover Aegisth gemeuchelten Vaters Agamemnon auf, sondern bastelte sich auch bei jeder Gelegenheit, mit seinem Mantel eine Art Voodoo-Papa, um in ihrer Psychose nur ja nicht zu vergessen, wer unbedingt zeitnah zu rächen sei.

Nagano entfesselte ein wirkungspralles Spektakel

Für ihre großen Monologe hatte Stundyte jede Menge Druck und Irrlichtern zu bieten, geriet in den wenigen verhalten lyrischen Momenten ihrer Rolle dennoch öfter unter die Räder des Orchesters, das Nagano dynamisch dann nicht genug zügelte. Ausgerechnet dort wirkt sie viel angestrengter als in den lauten, grellen, kräfteverbrennenden Höhen.

Ansonsten aber entfesselte Nagano sehr konkret und eher ungeschmeidig ein wirkungspralles Strauss-Spektakel. Mit diesem hinterhältigen „Elektra“-Tonfall, der zwischen apokalyptischem Abgrund und trügerische Süße auch schon leicht den „Rosenkavalier“ anklingen lässt, obwohl es gerade dann um Blutdurst geht und nicht um subtile Schmeicheleien und Wiener Schmäh. Nagano vertonte vor allem den Amoklauf dieser Musik, um den Horror des Extrem-Dramas tief ins Gemüt des Publikums zu rammen – das am Ende größtenteils begeistert reagierte, abgesehen von einigen Buhs für den Dirigenten und anschließend das Regie-Team.

Staatsoper Hamburg: Holloway hinterließ Eindruck

Urmanas Klytemnästra war in dieser Inszenierung so gallig wie fies, bis an ihr verdient blutiges Ende gab es keinen Moment, in dem sie aus dieser gut sitzenden Schablone entkam. John Daszak nutzte als Aegisth energisch die wenigen Momente, die er bis zu seinem sehr unfreiwilligen Ableben hatte. Lauri Vasar war als Orest, Elektras scheinbar wieder unter die Lebenden zurückgekehrter Bruder, auch schauspielerisch stark.

Doch den stärksten Eindruck als supporting Hauptrolle hinterließ eindeutig Jennifer Holloway. Sie überwirkte mit ihrer Chrysothemis das Orchester selbst in den wogendsten Momenten, mit strahlender, fast leicht wirkender Kraft und ohne auch nur den Hauch eines substanziellen Schwächelns. Aaaaber… ach, sehen Sie selbst.

Weitere Vorstellungen: 1. / 8. / 11.12., 2. / 10. / 13.4. Infos: www.staatsoper-hamburg.de