Hamburg. Im Malersaal des Schauspielhauses spielt Lina Beckmann live aus der Corona-Quarantäne. Und sie läuft trotz allem zu Hochform auf.
Theater-Faustregel: Hat die Intendantin vor Premierenbeginn etwas zu verkünden, ist das selten ein gutes Zeichen. Das gilt zunächst auch, als Karin Beier am Freitagabend im Malersaal des Schauspielhauses vor das Publikum tritt: Die Schauspielerin Lina Beckmann ist mit Covid-19 infiziert, sie könne also nicht wie geplant für die deutsche Erstaufführung von „33 Variationen auf Haydns Schädel“ auf der Bühne stehen, erklärt Beier.
Hörbare Enttäuschung im Publikum. Aber, noch so eine Theater-Faustregel: Manchmal sind solche Abende, die kurzfristiges Improvisationstalent erfordern, am Ende besonders bereichernd. Auch das gilt hier.
Premiere mit Corona: Lina Beckmann spielt live in heimischer Quarantäne
Denn „im Harakiri-Verfahren“ habe sich der Regisseur Viktor Bodó eine Lösung für die „heutige Revue“ aus dem Nachlass des ungarischen Schriftstellers Péter Esterházy überlegt: „Wir wissen ja, dass Engel körperlos sind.“ Und da Lina Beckmann einen Himmelsboten spielt und der Rest des Ensembles per PCR negativ getestet ist, findet die Premiere statt: Der Engel schaltet sich kurzerhand per Video aus der heimischen Quarantäne dazu. Und spielt mit, live, auf Bildschirmen und direkt an die Betonwände gebeamt. Teils körperlos, durchaus, aber voll sprühender Energie. „Wir wollten diese Premiere unbedingt spielen“, hatte Lina Beckmann, der es gut ging, vorab erklärt – diese Lust überträgt sich ausnahmslos.
Auch wenn es im Stück scheint, als habe sich auch abseits von Corona die ganze Welt gegen diesen Versuch verschworen: Bevor das im Halbkreis platzierte und in elegantem Schwarz gewandete Instrumentalensemble loslegen kann, unterbrechen Handyklingeln und Kirchenglocken, Hundekläffen und ein sehr tieffliegendes Flugzeug sowie höchst unsensibles Hinterbühnen- und Soufflierpersonal das Dirigat des Herrn Kapellmeister Haydn. Und das ist nur der Anfang.
Der Komponist Joseph Haydn (apart neurotisch: Jan-Peter Kampwirth) will nicht mehr schreiben und tut doch nichts anderes, obwohl um ihn herum in einer wilden Assoziationscollage zunehmend der Irrsinn ausbricht. In einem pittoresk verfallenen Saal der Fürstenresidenz Esterházy (der Autor ist ein Nachfahre, die Bühne von Zita Schnábel) werden Haydn-Medleys von Klaus von Heydenaber flott (um)arrangiert, österreichische Leichen aller Art ausgebuddelt, da wird wie in einem Comic eine Insektenverfolgungsjagd ausgespielt, bis der Flügel qualmt und aus der Kompositionsfeder die Flammen der Inspiration flackern.
Grotesker Reigen mit geschmeidigen Meta-Ebenen
Bühnenmittig baumelt der kultisch verehrte Tonschöpfer-Schädel, aufs Genie vermessen und bei Bedarf abgeschleckt. Mama Haydn (Ute Hannig im allerschönsten Burgenland-Schmäh) drängt ihren gebeutelten „Joschi“, der sich jeder Versuchung entzieht außer der Musik. Kumpel Mozart hat jedenfalls mehr street credibility – und ist nur eine von zahlreichen Rollen, in denen der fabelhaft wandlungsfähige Komödiant Christoph Jöde hier unter Starkstrom steht (und nebenbei den „Po“ in KomPOsition zum Klingen bringt). Jeder Auftritt eine große Nummer.
Zusammengehalten wird der groteske Reigen durch den Haydn-Rausch, durch das spürbare Vergnügen an der so pointiert wie liebevoll servierten Albernheit, die geschmeidigen Meta-Ebenen und toll absurden Ideen (das junge Ding, das den Wiener Klassiker vergöttert, gebiert ihm eine Mini-Geige). Auch Samuel Weiss und Josephine Israel bei ihren Kapriolen zuzuschauen, macht einen Haydnspaß. Darauf ein Red Bull!
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Und Lina Beckmann gibt in ihrem Quarantäne-Kasten den lässig-bissigen Entertainer, kanzelt ab und kommentiert („Wieso muss ich hier eigentlich die dramaturgischen Probleme lösen?“), räsoniert über „bärtige Ästhetik“ und läuft trotz allem zu Hochform auf, als sei das alles genau so und niemals anders gedacht gewesen. Lachtränen und heftiger Applaus – den man auch der nicht körperlich anwesenden Schauspielerin unmittelbarer gegönnt hätte.
„33 Variationen auf Haydns Schädel“, wieder am 29.11. sowie 3./4.1., jew. 19.30 Uhr, im Malersaal/Schauspielhaus, Karten unter T. 248713