Hamburg. Unter Kirill Petrenko begeistert das Orchester aus der Hauptstadt mit Mendelssohn und Schostakowitsch bei einem Matinee-Konzert.
Bereits im späten 19. Jahrhundert gastierten die schon damals nicht ganz schlechten Berliner Philharmoniker erstmals hin und wieder in Hamburg und waren damit eine bedrohliche Konkurrenz für die wackeren Ortskräfte, die sich redlich bemühten. Zum Auswärtsspiel-Dauerauftrag wurde das bisher nicht, doch als kleine Anspielung auf die „special relationship“ zwischen den beiden Musik-Metropolen und ihren beiden extrem prominenten Konzertsälen hatte ein hiesiger Spaßvogel nun das Logo der Elbphilharmonie auf dem Programmheft mit dem goldenen Fassadenmuster der Berliner Philharmonie gefüllt.
Ein schönes Symbol für das zweistündige sehr freundschaftliche Entern dieser Bühne, auch für das Ausmaß an Brillanz und Perfektion, mit der dieses Orchester dort aufwarten konnte, als sei solche Qualität wie auf Knopfdruck das Einfachste überhaupt.
Berliner Philharmoniker machen Zwischenstopp in Elbphilharmonie
Grund für das Wiedersehen und -hören zu sehr ungewöhnlicher Zeit – Sonnabend, 11 Uhr vormittags – war der Einschub eines Zwischenstopps an der Elbe, auf dem Weg von einer kurzen Skandinavien-Tournee nach Rom lag Hamburg praktisch auf dem Weg. Doch wie eine öffentliche Probe mit zahlendem Publikum wirkte dieser Spezialauftritt vor ausverkauftem und restlos begeistertem Haus natürlich ganz und gar nicht.
Beim Debüt-Konzert mit „seinen“ Berlinern hatte Chefdirigent Kirill Petrenko im Februar 2020 leicht außenseiternde Werke von Strawinsky, B.A. Zimmermann und Rachmaninow kombiniert, um Hoffnungen auf Harmloses zu umgehen, nun war es eine anders interessante Dopplung: Mendelssohns „Schottische“ und Schostakowitschs Zehnte. Naturschilderung und Postkarten-Vertonung einerseits also, andererseits eines dieser von Nackenschlägen des Schicksals durchzogene Zentralwerke, in denen der sowjetische Vorzeige-Komponist Schostakowitsch seine Ängste vor schlimmsten Strafen durch Stalins Regime subtil verinnerlicht hatte und gleichzeitig dröhnend vom Tutti herausbrüllen ließ.
Berliner Philharmoniker weben Klangteppich in der Elbphilharmonie
Ein entscheidender Schlüsselbegriff zur Wertung und Entschlüsselung dieses Konzerts ist der normalerweise leicht abgeschabte Begriff „Klangteppich“. Gern genommen, aber nur sehr selten so eindringlich zu erleben wie hier, bei dieser höchstauflösenden und gleichzeitig enorm dichten, aber nie dicken Wiedergabe von Mendelssohns hinreißend schöner Musik. Wie genau die Berliner es schafften, vom ersten Einsatz an an der gefürchteten radikalen Durchhörbarkeit der Hamburger Saal-Akustik vorbei zu kommen, die alles und jeden sofort bestraft, wenn nicht aufeinander geachtet wird – keine Ahnung.
Sie taten es aber einfach; weil sie die Berliner Philharmoniker sind und es nun mal können. Wohin und worauf man auch hörte, nirgendwo, nirgends, nie die kleinste Lücke im Geschehen. Nuancen kamen und gingen geschmeidig, die Ideenpracht wurde hörbar gemacht, an harmlos tönender, verniedlichender Unterhaltung mit romantischer Idyllenvertonung schien Petrenko nicht allzu sehr interessiert.
Millimetergenaue Klangsinnlichkeit
Weit und breit nicht der kleinste Klangteppich-Webfehler in einer millimetergenauen Klangsinnlichkeit, die sich ihrer Anmut bewusst war, damit aber nicht aggressiv angab. Nichts war unscharf, rumpelte schwerfällig oder verursachte Gleichgewichtsstörungen. Unter das Hauptthema des ersten Satzes, das die Streicher wie guten Whisky einschenkten, schmiegte sich Wenzel Fuchs’ Solo-Klarinette, nur ganz sanft durch- und mitschimmernd. Solche Exzellenz-Momente gab es danach ständig, überall im Orchester. Das Tollste dabei: Auch Petrenkos Dazutun sah durchgehend nicht nach harter Arbeit aus.
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Eine ganz andere Welt eröffnete er im Kopfsatz der Zehnten. Celli und Bässe durchlitten unisono die lange, kalte, matte, fahle Einleitung. Eine große, in alle Richtungen wuchernde Tragödie nahm sich den Raum und viel Zeit, um lähmende Hoffnungslosigkeit zu verbreiten. Diese Spannung hielt Petrenko konsequent aufrecht; während das brutale Scherzo des zweiten Satzes wilder und wilder drauflosmarschierte, stand er felsenfest im Getöse. Erneut glänzte eine Instrumentengruppe toller als die andere: Die Mitglieder der Horn-Gruppe wirkten in ihrer Sicherheit wie siamesische Vierlinge, das Holz konnte nach Belieben mit feinen Klang-Schattierungen die Fieberkurven der Musik nachziehen.
Blech und Pauken hämmerten wieder und wieder vor allem Schostakowitschs Noten-Monogram D-Es-C-H heraus. Wie jede in sich fürchterliche Schostakowitsch-Sinfonie war auch die Zehnte, erst recht in dieser funkelnden Interpretation, eine mehrbödige Mischung aus Extremzuständen, Amoklauf, Depressionsschüben und trotzigem Aufbegehren. Petrenko und sein Orchester hatten die Größe, sich all dem zu stellen.
Aufnahme: „Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker“ Werke von Beethoven, Tschaikowsky, Schmidt u.a., Berliner Philharmoniker Recordings, Box mit 5 CDs und 2 Blu-Ray, 69 Euro / 24-bit-Download, 49 Euro)