Hamburg. Der Pianist gab Beethovens Variationen eines Walzers zum Besten – in Kombination mit zeitgenössischen Reaktionen darauf.

Mächtig meta, dieser Abend. Zunächst, als Keimzelle des Ganzen, ein kurzer, schlichter C-Dur-Walzer, der größte Hit des Wiener Kleinmeisters Anton Diabelli, etwa 200 Jahre alt und zackig in die Tasten geworfen, mit einer amüsanten Prise Jerry Lee Lewis in der satt zupackenden Linken. Dann elf zeitgenössische Reaktionen auf diese Steilvorlage, die der Solist dieses Konzerts zum Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 in Auftrag gegeben hatte. Danach acht vor allem virtuose Diabelli-Verarbeitungen von Kollegen Beethovens, die 1824, mit 42 anderen, in einem All-Star-Sammelband zum „Vaterländischen Kunstverein“ gebündelt worden waren.

Nach der Pause kamen dann endlich auch die 33 Ich-werd’s-euch-zeigen-Meisterwerke selbst, die Beethoven 1823 als allumfassende, erschöpfende Replik auf das Diabelli-Walzerchen-Projekt zu Notenpapier gebracht hatte. Auch, um genau 33 Mal klar zu stellen, wo beim Prestige-Thema Variationenkunstfertigkeit der Hammer neben dem Klavier hing. Bei ihm nämlich, nur bei ihm. Es ging um Nachdenken über das Nachdenken über die Möglichkeiten von Musik und was man damit anstellen kann, um original zu sein – oder wenigstens ziemlich originell, wenn es zu mehr nicht gereicht hat.

Laeiszhalle Hamburg: Die Variationen von Rudolf Buchbinder

Der Pianist Rudolf Buchbinder, ohnehin vor allem als Beethoven-Interpret profiliert, und die „Diabelli-Variationen“, das ist längst eine gut aufeinander eingespielte Schicksalsgemeinschaft. Bei seinem derart raffiniert verästelten Klavierabend im Großen Saal der Laeiszhalle alle Anforderungen dieses etwa zweistündigen „Beethoven und umzu“-Seminars bedient. Aber – doch das auf interessante Weise – nicht alle Erwartungen an den Umgang mit diesem komplexen Lehrstoff erfüllt.

Denn wenn Buchbinder, inzwischen jugendliche 74 Jahre alt, eines hat, dann: Kondition. Enorme Kondition. Der kommt auf die Bühne und spielt und spielt und spielt gern noch weiter, bis zum Applaus. Und dann könnten die Hände garantiert immer noch Extra-Runden, als wäre außer diesen vielen Noten fast nicht gewesen. Beneidenswert, bestimmt. Wünschenswert? Nicht immer. Hin und wieder dürfte schon zu hören sein, dass die Musik, der er sich widmet und öffnet, auch Forderungen stellt, die sich jenseits der manuellen Fingerfertigkeit bewegen. Dort, wo das Spiel beginnt und tunlichst fehlerlose Wiedergabe ein Ende hat.

Am meisten Spaß machten die „Neuen Variationen“ Jörg Widmann

In den „Diabelli Project“-Beiträgen hatte Buchbinder zunächst reichlich Gelegenheit, die Handschriften der jeweiligen Stück-Zulieferer nachzuzeichnen: das dunkle Rumpeln in Lera Auerbachs „Diabellical Waltz“, mit seinen zerfaserten, vernebelten Kleinteiligkeiten; die Zeitlupe, mit der Toshio Hosokawa in „Verlust“ dem Gewesenen hinterherdachte; die Ligeti-Ähnlichkeiten im Sprint von Philippe Manoury; Max Richters überelegisches „Diabelli“-Grübeln. Ein Überblick, wie man sich heute im übermächtigen Schatten Beethovens bewegen kann. All das präsentierte Buchbinder mit großer, geläufiger Selbstverständlichkeit.

Den eindeutig größten Spaß im Sortiment machte, kaum überraschend, Jörg Widmann, der in seinen „Neuen Variationen“ frohgemut alles verquirlte, was an Pointen Platz fand. Der Wiener Walzer-Rest hatte deutliche Heurigen-Schlagseite, ein Radetzky-Marsch-Moment grätschte dazwischen, die Musik trudelte hin und wieder und tat alles, um sich nur ja nicht richtig ernst nehmen zu lassen. Und Buchbinder spielte diesen Sketch gelassen und genießend mit.

Man kann diesen Zyklus so flott spielen, falls man es kann

In der Abteilung Diabelli II war es ein anderes Vergnügen: Wann hört man schon so viel klassisches Wiener Virtuosengeklingel geballt? Hummel, Kalkbrenner, Kreutzer – ein Stück salonlöwiger als das nächste. Aber: Liszts Diabelli, eindeutig mehr Liszt als sonstwer. Czernys Variation, ein pianistischer Hürdenlauf. Und aber auch: Diabelli à la Schubert, der vor allem Schubert war. Sanft lächelnd, sich über das zu kittende Herz streichelnd. Doch hier und ebenso später, im zugegebenen As-Dur-Impromptu D 899, ließ es Buchbinder am ganz feinen ästhetischen Fingerspitzengefühl fehlen.

Nachdem er durch die erste Hälfte seine Beethoven-Betriebstemperatur scheinbar mühelos erreicht hatte, rauschte er durch dessen op. 120, als hätte er noch einen späten Zug zum nächsten Konzertort zu erreichen. Man kann diesen Zyklus so flott spielen, falls man es kann, und Buchbinder konnte. Ob man es sollte, weil dabei etliche Nuancen, Wendungen und Glücksmomente zugunsten des bloßen Effekts verloren gehen und unter Wert ans Vorbei verschenkt werden, ist eine andere Frage.

Buchbinder spielte die meiste Zeit auf Autopilot

Damit hielt Buchbinder sich jedenfalls nicht grundsätzlich auf. Erst als Beethoven beim Einbiegen ins Finale in der Fuga von Nr. 32 das wilde Fantasieren mit dem Einwurf fragender Akkorde abbremste und damit das Innehalten und innere Sortieren einforderte, konnte auch Buchbinder nicht anders, als einmal musikalisch tief durchzuatmen und wieder an die Hörer zu denken, die mehr als nur beeindruckt werden möchten. Diese leichte, aber späte sinnstiftende Verstörung hielt nicht allzu lange an, bevor Buchbinder den Autopilot wieder anwarf und so den Zyklus zu seinem triumphalen Ende brachte.

Aufnahme: Rudolf Buchbinder „The Diabelli Project“ (DG, 2 CDs, ca. 13 Euro)