Hamburg. Was würde sie ohne das Schreiben machen? Die französische Starautorin sprach bei ihrem Auftritt nicht nur über den neuen Roman.

Eine „geradezu nervenzerfetzende Spannung“ attestierte NDR-Literaturmann Alexander Solloch ihrem Buch. Leïla Slimani zeigte sich darob nicht verwundert. Weil der frankophone Journalist ihr diese Stelle seiner flüssig und pointiert vorgetragenen Einleitung gar nicht übersetzte. Wahrscheinlich hätte sie sich geschmeichelt gefühlt, vielleicht aber auch, als ehemalige Kollegin, die Übertreibungskünste des Journalismus am Werk gesehen.

Im Rolf-Liebermann-Studio ging es am Montagabend um Slimanis aktuellen Roman „Das Land der Anderen“, den die marokkanisch-französische Schriftstellerin und frühere Journalistin im Gespräch mit Solloch vorstellte. Und ja, in dieser großen europäisch-nordafrikanischen Erzählung steuert alles auf ein Gewitter zu. Es ballen sich die Konflikte zwischen Kolonialisten und Einheimischen, und die fantastische, tatsächlich unvergessliche Hauptfigur Mathilde steht zwischen den Fronten. Aber ein echter Thriller ist „Das Land der Anderen“ nicht wirklich. Gottlob!

Leïla Slimani stellt neuen Roman in Hamburg vor

Nein, dieser Roman, der in Frankreich und Deutschland gleichermaßen viel gelesen wurde und wird, ist eher das geduldige und natürlich nicht unspannende Porträt einer Frau, die einst aus dem Elsass nach Marokko kam und dort, es war ein Aufeinanderprallen der Kulturen, ziemlich verzweifelte. Mathilde, kühne Blonde aus der Grenzregion zu Deutschland, ist eine an Slimanis Großmutter angelehnte Figur, die dennoch in manchen Teilen erfunden ist. So erzählte es die 40-jährige Slimani dem gut unterhaltenen Publikum, das sicher zu weiten Teilen die Geschichte der Romangestalt Mathilde bereits kannte (der Roman erschien im Mai auf Deutsch), die mit einem marokkanischen Soldaten in Diensten Frankreichs anbandelt und nach dem zweiten Weltkrieg mit ihm in dessen Heimatland geht.

So wie Mathildes reales Vorbild. Über dieses erfuhr man dann noch, dass es besser Deutsch als Französisch sprach und nach dem M auch gerne mal einen Schnaps trank. Es war ein bemerkenswert lässiger Auftritt der Bestsellerfrau aus dem Nachbarland, der man nur zu gerne das Etikett „Starautorin“ anheftet – es ist ja die Gesamterscheinung, die zu solch allfälligen Zuschreibungen verführt. Eine noch jung zu nennende Frau mit Ausstrahlung, die rasante Romane schreibt, in denen die Settings ziemlich unterschiedlich sind, die Themen aber nicht.

Was letzteres angeht, war das einzige Manko eines insgesamt doch fast vorbildliches Literaturabends zu konstatieren. Angesichts des forcierten Dahinschnurrens fehlte bisweilen die Tiefe. Zu Slimanis bei einem öffentlichen Auftritt beklagter Sklaverei des weiblichen Gefallenwollens fiel Moderator Solloch zwar ein, Slimani zu fragen, wie weit sie persönlich schon in ihrer Emanzipation von derlei Zwängen sei, aber zu größeren Horizonten – warum ist das eigentlich immer noch so, dass Männer anscheinend grober und kompromissloser sind im Auftreten? – gelangte man damit nicht.

Leïla Slimani: Neues Projekt ist biografisch motiviert

Slimani („Mich interessieren Likes nicht, was Leute über mich oder mein Schreiben denken, auch nicht“) verwies nicht zu Unrecht darauf, dass sämtliche ihrer Frauengestalten Ähnlichkeit mit Flauberts Emma Bovary haben: Sie haben keine Lust darauf, ihre Leben an der Seite jeweiliger Ehemänner zu fristen und ihre Erfüllung in der Aufzucht der Kinder zu finden. Sie erklärte („Mein Leben wäre verfehlt, schriebe ich nicht; ich wäre vermutlich eine verbitterte Alkoholikerin“), warum sie ohne ihr Schreiben nicht leben könnte und, warum sie nicht Emmanuel Macrons Kulturministerin geworden sei. Eine Schriftstellerin müsse schreiben, so reizvoll etwa glanzvolle Auftritte im Staatsamt auch seien.

Biografisch motiviert ist ihr gegenwärtiges Projekt – im Februar wird auf Französisch der zweite Band der annoncierten Trilogie erscheinen – deswegen, weil sie überall auf der Welt nach dem Erfolg ihres mit dem Prix Goncourt prämierten Romans „Chanson douce“ (dt. „Dann schlaf auch du“) Fragen nach ihrer Identität begegnete. Fragen dieser Natur beantworte sie am liebsten im Schreiben, sagte Slimani.

Fragen nach der Anziehungskraft von Slimanis Prosa beantwortete auch die Schauspielerin Franziska Herrmann, die Passagen aus der deutschen Ausgabe von „Das Land der Anderen“ las. Mathildes Isolation, die seelische Kargheit ihres Gatten, Szenen einer Ehe: Irgendwie wird sie nicht nur all das meistern, was ihr da an kulturellen und emotionalen Widrigkeiten begegnet. Sie wird auf die harte Tour auch lernen, in der Fremde heimisch zu werden.

Leïla Slimani punktete mit dem Charme der Offenheit. Zu diesbezüglichen Äußerungen zählte auch das Geständnis, lieber allein als unter Leuten zu sein – „Schreiben ist der beste Vorwand, Leute nicht treffen zu müssen“. Gut, das ist ein porentief reines Schriftstellerklischee, aber man goutiert den Verzicht, der in diesem Fall doppelt wiegt; schließlich hat Slimani zumindest theoretisch allerlei Glamourpotenzial. Zumal, wenn man mit dem Literaturlineal misst.

Slimani über eine kleine Form des Feminismus

Sie sei von den Erzählungen ihrer lebenslustigen Großmutter immerzu beeindruckt gewesen, sagte die Schriftstellerin. Deren Agieren im patriarchalischen Marokko will Slimani („Ich urteile nicht über meine Figuren“) durchaus als kleine Formen des Feminismus begreifen. Im Nachfolgeroman könnte dieser Feminismus eine größere Rolle spielen. Aicha, die Tochter Mathildes in „Das Land der Anderen“, wird dort die Hauptfigur sein, als solche in Straßburg Medizin studieren und von der Studentenrevolte und ihren Folgen noch manches mitbekommen.

So erzählte es Leïla Slimani ihren Leserinnen und Lesern in Hamburg. Sie, die eigener Aussage zufolge mal von der Wichtigkeit der Literatur überzeugt ist, dann wieder die Sinnlosigkeit des Schreibens befürchtet, performte als Bannerträgerin der international anschlussfähigen, smarten und intelligenten Gegenwartsliteratur. Und war überdies eine hervorragende Botschafterin der französischen Sprache, die ihren flott ventilierten Sentenzen an diesem Abend ihren speziellen Schliff verliehen.