Hamburg. Er mag Musik, wenn sie lang ist: Pianist stellt sich in der Laeiszhalle tapfer träumend Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen.

Nur die weißen Tasten, reines, unbeschwert vor sich hin träumendes C-Dur, einige Minuten trügerische, geradezu kinderliedleichte Schlichtheiten, unbelastet von den Ängsten und Schwächen der Welt, rührend freundlich vor sich hin erzählt. Noch nicht die leiseste Andeutung der gut zweieinhalb Stunden langen Achttausender-Ketten aus Notenbergen, doppelbödigen Fugenkonstrukten und langatmigen Entwicklungsprozessen, die hinter diesem ersten der 24 Präludien und ihren 24 Fugen steil aufragen werden.

Schostakowitschs epochaler, mitunter entlarvend persönlicher Zyklus, mit dem er sich 1951 tief vor Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ verbeugte und dennoch stolz und aufrecht Eigensinn gegenüber dem System und Genius trotz seiner bohrenden Zweifel und Ängste demonstrierte, ist nichts für nerven- oder gar konditionsschwache Interpreten.

Brillierend, traurig, federnd: Konzert von Igor Levit in der Laeiszhalle

Also genau der Suchtstoff, aus dem Igor Levit nach dem Runterkommen vom High der 32 Beethoven-Sonaten seine selbstbewusstseinserweiternden Strapazen vor Publikum am liebsten hat. Und weil ihm ein Stresstest im Zweifelsfall einer zu wenig ist, hat er für sein aktuelles Album diesen Schostakowitsch mit der ganz anders furchterregend schweren „Passacaglia on DSCH“ des Schotten Ronald Stevenson gekoppelt.

Mit Eitelkeiten und virtuosem Geklingel um seiner selbst willen käme man hier nicht weit, diese Musik verzeiht keine schicken Ego-Trips. Dieser Zyklus macht bescheiden – und fertig. Dieser Weg, bis hin zur donnernd aufwogenden letzten Fuge in d-Moll, wird kein leichter sein; die Parkbuchten zur durchatmenden Rast sind spärlich verteilt. Mit jeder weiteren Etappe bohrte sich Levit immer noch etwas tiefer in die Musik, mit den Kräften haushaltend, voll konzentriert darauf, die Qualen und Freuden dieser auch intellektuell anspruchsvollen Langstrecke mitklingen zu lassen.

Dieser Zyklus macht bescheiden – und fertig

Wie wagt man sich dennoch hinein, in diese Rundreise durch den Quintenzirkel, und, heikler noch: wie findet man dort halbwegs unversehrt wieder heraus? Levit nahm zumindest den einfachsten Einstieg: neugierig auf Kommendes, mit singendem Legato und die ruhigen ersten Momente genießend. Denn direkt im Anschluss raste bereits das a-Moll-Präludium los, eine Spieldose auf Speed, bei der Schostakowitsch schon die ersten grotesken Einsprengsel im Fugen-Material versteckt hatte, die Levit wie ein Kunstschütze im gestreckten Galopp zu treffen hatte.

Weil Schostakowitsch nicht nur zeigen wollte und konnte, wie grandios sein formaler Einfallsreichtum im Schatten Bachs ist, sondern auch all seine musikalischen Charakterzüge und zeitgenössischeren Vorlieben in die Abläufe verwoben hatte, wurde Levit von Abschnitt zu Abschnitt in immer wieder neue Gefühlswelten geworfen, die in wenigen Minuten ein weiteres Charakter-Puzzleteil ergeben sollten. Dem düster verdunkelten G-Dur-Präludium folgte die funkensprühende Blitzschach-Partie der G-Dur-Fuge, in der Levits Lauftechnik in Höchstgeschwindigkeit gefordert war.

Von schattig, todtraurig zu elastisch federnd

Der schattige, todtraurig einsame Nebel über dem e-Moll-Präludium verzog sich in der Fuge und ließ Levit den Blick auf einen weiten, fast sakralen Klangraum weiten. Apart dahingetänzelt: die barockisierenden Zitate im D-Dur-Präludium, Schostakowitschs kurzes Zurück zum Idol, in eine Formsprache, die zumindest für diese wenigen Minuten nichts mit der verstörenden sowjetischen Gegenwart des 20. Jahrhunderts zu tun haben sollte.

Gefolgt vom elastisch federnden Fugen-Thema, mit dem Levit derart respektvoll umging, als wäre es ein empfindliches Autograph, das beim kleinsten bisschen Zuviel an Nachdruck irreparabel leiden würde. Und wo auch immer Schostakowitsch, da dürfen bissige kleine Militaria-Grotesken wie im fis-Moll-Präludium nicht fehlen; das klare Perlen der E-Dur-Fuge danach war eine weitere, dankbar angenommene Einladung zum funkelnden Brillieren.

Levit behielt den Durchblick und reizte das Risiko voll aus

Die zweite Hälfte des Zyklus erkundete die entlegeneren Tonarten: Das Fis-Dur-Präludium entrückte Levit in die Nähe eines Chopin-Nocturne, bevor er in der Fuge die Reibungen noch weiter auskostete. Das es-Moll-Präludium danach legte Levit als schorfige Eisfläche an. Über dem Tremolo der Linken taumelte eine Melodielinie suchend voran, bis sie vom erschütternd tristen Thema der Fuge erlöst wurde. Die folkloristischen Anspielungen, das mürbe Moll, das leise trotzige Klagen – all das holte Levit mit großem Nachdruck und bezwingender Überzeugungskraft aus dem Notentext heraus.

Auf das brachial gehämmerte Des-Dur-Präludium ließ Schostakowitsch in der Fuge eine scharfkantige, auch rhythmisch fies verwinkelte Fuge folgen – Material, aus dem Panikanfälle entstehen können. Auch hier: Levit behielt den Durchblick und reizte das Risiko voll aus. Die f-Moll-Fuge reduzierte er sanftmütig, als wäre eben auf den Tasten vor ihm nicht der Teufel los gewesen, auf eine impressionistische Grübelei, bevor das Es-Dur-Präludium schon wieder markiges Auftrumpfen verlangte.

Das flitzfingrige B-Dur-Präludium war mit seiner lehrbuchhaften Fuge eine nächste große Hürde vor dem sehr an Brahms’ Tristesse erinnernden vorletzten Präludium in F-Dur. Danach die finale d-Moll-Doppelfuge als letzte Steilwand, sensationell bezwungen, und das tief empfundene Glück, sich in dieser Musik verloren und doch auch gefunden zu haben.

CDs: Igor Levit „Passacaglia on DSCH“ Werke von Schostakowitsch und Stevenson (Sony Classical, 3 CDs, ca. 26 Euro) / Alexander Melnikov: Schostakowitsch 24 Präludien und Fugen op. 87 (harmonia mundi, 2 CDs, ca. 25 Euro). Nächstes Levit-Konzert: 21.4. mit dem Mahler Chamber Orchestra. Musik von Strawinsky und Copland sowie William Bolcoms 2. Klavierkonzert.