Hamburg. Nach nur zwei Wochen Probenzeit bringt Regisseur David Bösch „Die Entführung aus dem Serail“ auf die Bühne.

„Die Entführung aus dem Serail“ beginnt mit einem Nuscheln. Der Schauspieler Burghart Klaußner tritt vor den Vorhang. Laut Übertitel soll er sagen: „Kein Schmerz ist größer, als sich der Zeit des Glückes zu erinnern, wenn man im Elend ist.“ Klaußner zieht sich den hehren Satz allerdings mehr durch die Zähne, als dass er ihn artikuliert.

Wie anders klingt das, was aus dem Graben der Staatsoper kommt! Die Ouvertüre knistert nur so. Adam Fischer, der an der Staatsoper vor zwei Jahren einen sensationellen „Don Giovanni“ dirigiert hatte, formt die leisen Streicher­staccati zu tausend kleinen Nadelstichen, lässt Becken, Trommel und Triangel orientalisch rasseln und verleiht jeder noch so kurzen melodischen Passage ihren Sinn. Das Philharmonische Staatsorchester zeigt sich in Bestform. Und das ist doch schon mal eine gute Nachricht am Premierenabend.

David Bösch sprang zwei Wochen vorher ein

Diese Neuproduktion ist nämlich kein Selbstgänger. Gerade mal zwei Wochen vor der Premiere hatten die Staatsoper und der ursprünglich engagierte Regisseur Paul-Georg Dittrich ihre Zusammenarbeit beendet. David Bösch sprang ein. Zwei Wochen blieben ihm, um ein Konzept zu entwickeln und einzustudieren. Es war ein Himmelfahrtskommando. Doch es ist Bösch gelungen, eine in sich schlüssige Lesart aus dem Boden zu stampfen.

Wie soll man die „Entführung“ erzählen? Die Oper, als Singspiel bezeichnet wegen der gesprochenen Dialoge, entstammt einer Modeströmung. Im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts war die Belagerung durch die Türken 1683 im kollektiven Gedächtnis noch präsent. Man verarbeitete sie in orientalisierender Kunst. Und bediente sich bei einer Reihe von Klischees, die sich in der heutigen Zeit natürlich gänzlich verbieten.

Eingestreute Comic-Clips ernten viele Lacher

Bösch setzt auf eine Street-Art-Ästhetik. Statt eines aufwändigen Bühnenbildes werfen ihm die Ausstatter Patrick Bannwart und Falko Herold für den ersten Akt ein paar Matratzen hin; knapper kann man einen Harem kaum andeuten. Später stellen sie eine Sichtbetonwand auf und projizieren pointiert gezeichnete Comic-Clips darauf, die den Handlungsstillstand während der Arien überbrücken und viele Lacher ernten. Ansonsten prangt an der Wand mal ein Neon-Schriftzug „Men only“ und mal kritzelt Burghart Klaußner den Namen „Konstanze“ darauf.

Klaußner ist der Bassa Selim. Dem hat Mozart als einziger Figur eine Sprechrolle gegeben. Angeblich schlicht deshalb, weil der Kaiser die Entlassung des Sängers verfügt hatte, dem die Rolle zugedacht war. Trotzdem haben sich Generationen vom Exegeten gefragt: Warum singt er nicht? Und sind, wie jetzt auch Bösch, auf die Idee verfallen, die Geschichte aus der Perspektive des liebenden, zurückgewiesenen und schließlich großzügig loslassenden Bassa Selim zu erzählen: der Sprecher als dramaturgische Klammer.

Osmin als Zuhälter der sadistischen Art

Leider funktioniert das mit Klaußner nicht. Er ist einfach zu sehr damit beschäftigt, die Rolle zu unterlaufen und bloß jedes stimmliche Pathos zu vermeiden. Konstanze gegenüber ist er nichts als larmoyant. Alter Mann liebt junge Frau und wird sich der eigenen Sterblichkeit bewusst? Wie banal. Den geistesgeschichtlichen Überbau dieser Begegnung zweier Religionen, die die Geste des Bassa dem Gedankengut von Lessings Nathan dem Weisen naherückt, hat Bösch womöglich absichtlich wegretuschiert.

Bei der Zeichnung der übrigen Figuren beweist er eine glücklichere Hand. Osmin ist bei Bösch kein grantelnder Haremswächter, sondern ein Zuhälter der sadistischen Art; wenn der Bass Ante Jerkunica seine Axt schwingt, kann einem himmelangst werden. Jerkunica bringt eine beeindruckende Tiefe mit, singt aber in den höheren Lagen zunächst wenig fokussiert. Dass er Blonde liebt, ist seine Schwachstelle, da greift der Herr der Unterwelt schon mal zum Staubsauger.

Sopranistin Tuuli Takala rührt mit lyrischen Passagen

Narea Son spielt die selbstbewusste Engländerin mit Witz und perlendem Sopran, der nur in den Spitzengegenden etwas eng wird. Ihren Geliebten Pedrillo verkörpert Michael Laurenz mit hellem Tenor und einem comic-artigen szenischen Tempo. Die Sopranistin Tuuli Takala lässt sich von den ausgedehnten, hochvirtuosen Arien der Konstanze nicht den Schneid abkaufen, die lyrischen Passagen gestaltet sie anrührend. In der Höhe hat sie einige Schärfen, das Vibrato ist recht groß und der Text schwer verständlich, aber ihre Leistung ist beachtlich.

Dem Belmonte von Dovlet Nurgeldiyev dagegen fehlt leider jegliches Testosteron. Dieser Mann soll übers Meer gekommen sein, um seine Geliebte zu befreien? Nurgeldiyev spielt stocksteif, spricht betonungsarm und beginnt seine Arien oft unsicher. Mehrfach singt er deutlich zu früh und bringt die Holzbläser durcheinander. Das stresst beim Zuhören.

Hochaktuelle Themen in der Staatsoper

Auch inhaltlich bleibt leises Unbehagen. In der Geschichte ist, Klischee hin oder her, von Sklaverei und den Rechten der Frau die Rede, politischen hochaktuelle Themen. Es müssen ja nicht gleich vollverschleierte Darstellerinnen und Männer mit Kalaschnikows auf die Bühne, aber die paar Hinweise im Video wie das Schiffchen namens „Slave 1“ und gefesselte Hände, sind arg mager.

Immerhin, sie ist flott erzählt, diese „Entführung aus dem Serail“. Und was Fischer und das Orchester an Geist, Beweglichkeit, Farbenreichtum und Theatersinn aufbieten, das ist das reine Mozart-Glück.

„Die Entführung aus dem Serail“ weitere Vorstellungen am 21., 24., 27. und 30. Oktober, 2., 5. und 13. November, Staatsoper Hamburg, Karten unter T. 35 68 68; weitere Infos unter staatsoper-hamburg.de