Hamburg. Karin Beier widmet sich in der Inszenierung von „Kindeswohl“ von Ian McEwan existenziellen Fragen. Premierenpublikum ist überzeugt.

Das Sterben aushalten. Diese ultimative Kränkung, der auch mit aller Klugheit, aller Ratio und aller Empathie der Welt nicht beizukommen ist. Der Arzt versucht, den Tod zu vermeiden, „um jeden Preis“. Auch die Richterin hält das Leben des Einzelnen für wertvoller als dessen Würde. Das Sterben aushalten – wer kann das schon?

Vielleicht am ehesten: der Sterbende selbst? Und womöglich ist es sogar andersherum, dass nämlich ohne das Sterben das Leben gar nicht auszuhalten wäre: „Ohne Leid kein Mitleid, ohne Schmerz keine Empathie, so einfach ist das“, heißt es an einer Stelle in „Kindeswohl“, der Novelle des Briten Ian McEwan. Nach ihren opulenten Uraufführungen „Reich des Todes“ und „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ bringt Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier nun als erste eigene Saison-Premiere eine „rhetorische Kammermusik“, wie sie es selbst nennt, auf die Bühne.

Schauspielhaus: Bühnensituation wirkt komprimiert

„Kindeswohl“ ist ein moralisches Experiment, an dem, wenn es sich darauf einlässt, unweigerlich auch das Publikum beteiligt ist. Es fällt zwangsläufig ein Urteil, es nimmt eine Position ein. Womöglich sogar: mehr als eine im Laufe des dichten Abends.

Die Bühnensituation, die Johannes Schütz in den schwarzen, nahezu leeren Raum hineingebaut hat, ist eine komprimierte, wenn auch nicht gänzlich geschlossene. Auffälligstes Element: die breite, rechteckige Neonleuchte über der Spielfläche. Sie begrenzt den Raum nach oben, ohne zu offensichtlich zu bedrücken, ihr Licht wandelt sich von einer kühlen Nüchternheit (das Krankenhaus, das Gericht) zu einer sanften, erhellenden Wärme – und spiegelt damit auch die Verfasstheit der Protagonistin.

Unterhaltsames, braves Konversationsstück

Fiona Maye ist Richterin, Ende 50, selbstsicher, aber mit ihrem Mann Jack an einem derart müden Punkt ihrer Ehe angelangt, dass die Dialoge an Yasmina Reza oder Edward Albee erinnern, minus die Bösartigkeit. Jack will ihre Absolution für eine außereheliche Affäre, Fiona verweigert sie empört.

Im Ehe-Clinch: Paul Herwig und Julia Wieninger.
Im Ehe-Clinch: Paul Herwig und Julia Wieninger. © dpa | Marcus Brandt

In diese Grundstimmung eines unterhaltsamen, aber etwas braven Konversationsstückes platzt eine weitere Krise: der Eilantrag eines Arztes, der einen leukämiekranken Teenager nur dann vor dem sicheren, qualvollen Tod retten kann, wenn er ihn mit Blutkonserven behandelt. Das aber lehnen sowohl die streng gläubigen Eltern als auch der eben nur fast volljährige Adam vehement ab – die Familie gehört den Zeugen Jehovas an. Die juristische Entscheidung liegt bei Familienrichterin Fiona Maye.

„Gibt es eine Rechtspflicht zu leben?“

Das existenzielle Für und Wider kämpft fortan nicht nur in ihr, sondern wird auch von den Juristen beider Parteien vertreten, die wie der behandelnde Arzt (Christoph Jöde) zudem die Erzählerfunktion übernehmen: Seine Frage „Gibt es eine Rechtspflicht zu leben?“ beantwortet Adams Anwalt (Jan-Peter Kampwirth) direkt selbst: „Nein!“ Aber hat der Junge, der formal noch ein Kind ist, eine, wie Fiona argumentiert, „romantische Vorstellung vom Tod“?

Darf man ihn vor sich selbst schützen, muss man sogar – oder ist das vermessen? Nicht erst bei den konkreten Fragen danach, ob Lebensschutz über allem stehen und demnach auch Grundrechte einschränken sollte, ob man einer Gesellschaft ihre Freiheit aufzwingen darf, ob eine Mehrheit auch durch gut gemeinte Gesetze eine Minderheit unterdrücken kann, finden sich Parallelen zum aktuellen Pandemie-Diskurs.

Diskussion über ethische Grundsatzfragen ist nötig

Eine vollkommen eindeutige Haltung vertritt die Inszenierung dabei eher nicht – außer vielleicht der, dass eine Diskussion über ethische Grundsatzfragen, und seien sie noch so unmöglich zu klären, eine unbedingt zu führende ist.

Mit Fionas Urteil allerdings – sie besucht Adam am Krankenbett, ordnet die Transfusion an und rettet zunächst sein Leben – ist das Stück nicht vorbei. Zu nah kommen sich die Richterin und der Junge, Grenzen verschwimmen.

Ensembles liefert psychologisch genaues Spiel

Die Stärke des inhaltlich konfliktreichen, aber nicht ins Risiko gehenden Abends, der in manchen Momenten ein wenig von sich selbst ergriffen zu sein droht, liegt zum einen im psychologisch genauen Spiel des hervorragenden Ensembles, zum anderen darin, die Ebenen und emotionalen Färbungen der Handlungsstränge so über- und nebeneinander zu legen, dass sie dem Gesamtbild eine Tiefe verleihen.

Gerade die voll ausgekostete Lächerlichkeit des Midlife-Crisis-Themas („Sag mal, machst du jetzt Yoga?!“) rettet die Überhöhung des Schmerzes und die Schwere der persönlichen und gesellschaftlichen Verantwortung vor Larmoyanz. Ebenso wie das Live-Trio an Klavier, Cello und Geige (Bendix Dethleffsen, Michael Heupel und Swantje Tessmann), das, wo jeweils nötig, fein ergänzt und messerscharf stört (Komposition: Jörg Gollasch).

Ein sauberer, konzentrierter Abend im Schauspielhaus

Paul Herwig legt einen famos ridikülen Ehemann hin, ohne seine Figur zu verraten, Yorck Dippe überzeichnet souverän den kalauernden Saxophon-Freund, und Paul Behren überzeugt als sensibler Adam, dessen fiebrige Lebenslust bei aller Empfindsamkeit noch in der Todessehnsucht mitschwingt.

Im Zentrum der Inszenierung steht aber vor allem die kraftvolle, offen agierende Julia Wieninger, die ihrer Fiona sowohl eine Entschlossenheit als auch eine spürbare Verletzlichkeit mitgibt. Sie ist eine Frau des kühlen Verstandes, aber alles andere als eindimensional. Wieninger spielt das mit großer Warmherzigkeit und enormer Präzision; ihr schlichtes düsteres Schlusslied, Rilkes „Der Tod ist groß“, gehört dabei zu den anrührendsten Szenen. Großer Applaus für einen sauberen, konzentrierten Theaterabend.

„Kindeswohl“, Deutsches Schauspielhaus, wieder am 21. und 22.9., jew. 20 Uhr, Karten unter T. 248713 und www.schauspielhaus.de Podcast: Ein Gespräch mit der Schauspielhaus- Intendantin und Regisseurin Karin Beier sowie ihrer Chefdramaturgin Beate Heine können Sie unter abendblatt.de/podcast/saisonstart hören