Hamburg. Plakativ: Den „Brüdern Karamasow“ gelingt in Hamburg das zweifelhafte Kunststück, zugleich hektisch und langatmig zu wirken.
„Nach Moskau!“ Ach, verkehrtes Stück, verkehrter Russe. Neuer Versuch. „Ich bin eine Schauspielerin! Eine Möwe!“ Tschechow, Dostojewski, nitschewo. Wenn man dem falschen Herzen nachjagt, das hier verlockend blutrot an einer Angel baumelt, kann man sich schonmal verirren. Im Stück, im Autor, in der Liebe sowieso.
Nicht „Drei Schwestern“ stehen am Deutschen Schauspielhaus im Mittelpunkt, sondern ein anderes Sonntagabend-Triell: drei Brüder (und ein halber) in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“. Inszeniert von Oliver Frljić, nur eine Woche, nachdem Johan Simons am Thalia Theater schon „Der Idiot“ auf die Bühne gebracht hat.
Theater: Pauška lässt Birken immer wieder auftauchen
Der kleine Schlenker direkt zum Auftakt der Premiere ist jedenfalls lustig, und vielleicht ist es ja auch einerlei? Der Russe ist einer, der Birken liebt, so viel immerhin steht fest, weshalb Bühnenbildner Igor Pauška ab und an ein ganzes Wäldchen aus dem Schnürboden hinab- und wieder hinauffahren lässt. Auf und nieder, immer wieder. Was durchaus schön aussieht. Beim ersten Mal. In den Wiederholungen kommt es dann allerdings etwas uninspiriert daher. Aha, die Birken wieder, na. Leider sind sie nur ein Symptom.
„Mir sind in der letzten Zeit ein paar Zweifel gekommen, und deshalb sind wir ja alle hier“, sagt Fjodor Karamasow. Er ist der selbstsüchtige, verkommene Patriarch, um den seine Söhne kreisen, und dessen These, dass der Mensch „ein wildes und böses Tier“ sei, nicht zuletzt durch ihn selbst bestätigt wird.
Markus John als alter, weißer Mann
Markus John spielt den alten, weißen Mann beeindruckend raumgreifend, mit dröhnend virilen Grab-’em-by-the-pussy-Vibes: „In meinem ganzen Leben hat es kein einziges reizloses Weib gegeben!“ Weshalb die Paarungssituation etwas unübersichtlich ist, ein Teil der Problematik, die diese testosterongesteuerte Familie zugleich verbindet und trennt.
„Die Brüder Karamasow“ ist Fjodor M. Dostojewskis letzter Monumentalroman, in den er das ganze existenzielle Ringen um den Glauben, um Sinn, Freiheit, Schuld, Sühne und Moral gepackt hat. Dmitrij, der älteste Bruder (Christoph Jöde), fordert ein Erbteil, das ihm zusteht – und obwohl er eine Braut hat, Katerina „Katja“ Iwanowna, die heiliger ist als alle anderen zusammen (ätherisch: Eva Maria Nikolaus), konkurriert er mit dem Vater um dieselbe ausschweifende Frau, Gruschenka, einen sinnlichen Teufel der Versuchung.
Iwan versucht Aljoscha den Glauben auszutreiben
Der mittlere Bruder Iwan wiederum, dem Carlo Ljubek eine immense Präsenz mitgibt, liebt heimlich Dmitrijs Braut Katja und verachtet ebenfalls den Vater und das „verfluchte und ungeordnete Chaos“. Auf das blickt Jesus Christus zunächst vom Heiligenteller, dann von einer überdimensionalen Leinwand hinab; glücklich sieht er dabei nicht aus.
Und Grund zum Weltschmerz hat der Messias unbedingt: Mit detailreich ausgeschmückten, kaum erträglichen Wahrheiten versucht der Atheist Iwan dem jüngsten Bruder Aljoscha dessen festen Glauben auszutreiben. Aljoscha, vor allem im Gegensatz zu seinem donnernden Erzeuger der feinnervigste der drei Brüder Karamasow und mit sanfter, beharrlicher Klarheit von Paul Behren gespielt, hatte sich als Novize im Kloster eine passendere, eine geistige Vaterfigur gesucht.
Musikalische Dauer-Kommentierung anstrengend
Aber der Starez Sossima, den Michael Prelle mit rapunzelzopflangem Bart (Kostüme: Katrin Wolfermann) und in geradezu altmodischer Würde verkörpert, schickt ihn hinaus in die kalte Welt. Wo die Freiheit keine Grenzen mehr hat und die Gewalt uferlos ist.
Ja, düster ist die Wahrheit, so wie Pauškas sich wacker drehende, immer wieder verändernde Bühne, in deren Hintergrund Dostojewski persönlich das Geschehen begleitet. Oder doch zumindest der Pianist Daniel Regenberg, der als Wiedergänger des Verfassers im sozialistischen Fidel-Castro-Gedächtnis-Trainingsanzug am Flügel sitzt und alles untermalt. Das Bild ist witzig, die musikalische Dauer-Kommentierung jedoch nicht unanstrengend – und der wuchtige Text hat sie, um in seiner Intensität zu wirken, eigentlich auch gar nicht nötig.
Karamasow ermordet, Dmitrij verurteilt
Es ist wohl auch dies übertrieben Plakative der insgesamt ruhelosen Inszenierung von Oliver Frljić, das so schnell erschöpft. Dem Abend gelingt das zweifelhafte Kunststück, zugleich hektisch, fast hysterisch, und dabei langatmig zu wirken. Dabei ist „Die Brüder Karamasow“ nicht nur eine einerseits intellektuelle, andererseits emotionale Auseinandersetzung um grundlegende Prinzipien und konkurrierende Ideologien, sondern letztlich auch ein Kriminalstück.
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Der alte Karamasow wird ermordet, Dmitrij dafür zu Unrecht verurteilt, der Diener und Halbbruder Smerdjakow (Matti Krause) war der eigentliche Täter. Aber ob das Publikum – manche nutzten die kurzfristig eingebaute Pause zur Flucht – das begreifen kann, wenn es nicht absolut firm im Romanstoff ist?
Gerling ist im Schauspielhaus eine Naturgewalt
Aber immerhin: Eines der stärksten Bilder hatten auch jene, die nach der ersten Halbzeit das Weite suchten, gesehen: Sandra Gerling als Gruschenka ist auf der Schauspielhaus-Bühne eine echte Naturgewalt. Diese Frau ist buchstäblich on fire, und nicht nur, wenn sie eine lichterloh brennende Schleppe lässig hinter sich herzieht. Vollkommen nachvollziehbar, dass alle Kerle ihr verfallen.
„Ich will, dass wir uns verschwenden“, fordert sie auf und hält sich daran, sie spielt mit den Männern und mit ihrem Publikum, und ist dabei brandgefährlich wie jedes verwundete Tier. Die Bestie in ihr ist nur nachlässig gebändigt, nonchalant springt sie durch die Launen, gurrt und brüllt, moduliert abgründig Stimme und Stimmungen, mal Trotzkopf, mal Medusa, „heut’ Tanzen, morgen Kloster“. Ihr dabei zuzusehen, versöhnt mit vielem an diesem Abend.
„Die Brüder Karamasow“, Dt. Schauspielhaus, wieder am 2./10./18.10., jew. 19.30 Uhr, Karten unter T. 248713 oder schauspielhaus.de