Hamburg. „Nicht Anfassen!“ Der neue Liederabend von Franz Wittenbrink ist unterhaltsam, aber auch etwas von der Wirklichkeit überholt.

Ach, es ist eine vertraute Szene, wenn Rainer Piwek einen Gehstock schwingend über die Bühne des St. Pauli Theaters walzt und dabei „Ich bin zu fett“ als Cover zu Klängen von Michael Jacksons Superhit „Bad“ anstimmt. „Ich darf nicht raus, ich bleib zu Haus. Ich tob mich in der Küche aus...“ Es geht natürlich um exzessives Brotbacken, Kochen im Lockdown und entsprechende Gewichtszunahme mangels Bewegung.

Wie so viele Inszenierungen in Hamburg hätte auch „Nicht Anfassen!“ schon im vergangenen Winter Premiere im St. Pauli Theater feiern sollen. Dass man das der Inszenierung teilweise auch anmerkt, ist dem Thema geschuldet. Denn in dem Liederabend, geschrieben und inszeniert vom Erfinder des Genres, Franz Wittenbrink („Sekretärinnen“, „Männer“), geht es um „Liebe in Zeiten des Abstands“. Aktuelle Themen bergen aber leider immer das Risiko, von der Wirklichkeit überholt zu werden.

Und so geht es hier einmal mehr um das „neue“ distanzierte Miteinander, das sich ja – zumindest teilweise – inzwischen nicht mehr ganz so distanziert gestaltet. Wittenbrink verpackt das Ganze in eine beschwingte Nummernrevue, die wie immer musikalisch glänzend arrangiert und von sechs ausgezeichneten Schauspielerinnen und Schauspielern sowie dem Pianisten Mathias Weibrich und dem Gitarristen Matthias Pogoda auch ebenso performt ist.

Es gibt große Momente, wenn etwa Katharina Wittenbrink und Andreas Bongard vor Holger Dexne als Regie-Tyrann mit Blondhaarperücke eine Liebesszene aus „Romeo und Julia“ proben sollen – unter erschwerten Hygiene-Bedingungen natürlich. Bevor die Liebenden sich da die Hände reichen, spritzt erst einmal das Desinfektionsspray in Fontänen. Und der Versuch eines Kusses hinter Maske verursacht beim Regisseur neue Tobsuchtsanfälle. Eine Unterbrechung folgt auf die nächste. Die Nerven liegen blank. Bis zum Versuch eines Zungenkusses durch eine Plexiglasscheibe. Das ist überdreht, aber sehr komisch – auch wenn es eine Rückschau auf Bedingungen von vor einigen Monaten ist.

Holger Dexnes Unsinns-Sprech ein Höhepunkt des Abends

Die Pandemie-Lage verhandelt der Abend überwiegend heiter und durchaus kurzweilig. Er funktioniert immer dann am besten, wenn sich Wittenbrink auf seine Musikalität verlässt. Das gilt für wunderbar präsentierte Songs wie das Volkslied „Ich hab die Nacht geträumt“ oder Mendelssohn Bartholdys „Ach wie so bald verhallet der Reigen“, wie auch für die Schauspielszenen.

In der vielleicht besten, sicher komischsten Szene des Abends wächst Holger Dexne über sich hinaus bei dem Versuch als spröder Wissenschaftler von der deutschen Akademie für Sprache bestimmte Laute (Okklusive und Frikative) durch andere zu ersetzen, um den Austausch von Aerosolen beim Sprechen zu verringern. Natürlich führt dieser Sprachkurs zu einem aberwitzigen und vollkommen unverständlichen Unsinns-Sprech.

Ungeheuer komisch ist auch, wenn die stimmgewaltige Anneke Schwabe als Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs in Pyjama-Hose und Puschen, den Laptop auf den Knien, verzweifelt um Konzentration im Homeoffice ringt und Bongard und Wittenbrink als Kleinkinder laut „Oh, wann kommst Du“ kreischen und sich gegenseitig verkloppen. Der ganz normale Familienwahnsinn eben.

Die Pandemie wird noch einmal durchlitten

Es gibt aber auch durchaus ernste Momente, wenn Katharina Blaschke mit ihrem grandiosen hohen Sopran als Großmutter im Altersheim von der Pflegerin an die Fensterscheibe platziert wird und Katharina Wittenbrink sich als Enkelin dahinter vergeblich um eine Kontaktaufnahme bemüht. Oder wenn es um Verdrängung von purer Verzweiflung mit Hilfe von Alkohol, Überleben und die gemeinsam geteilte Isolation und Einsamkeit geht. Zu den schwächeren Szenen gehören ein etwas einfallsloses Begrüßungsmedley und eingestreute Klassiker wie „Something Stupid“, die zwar schön performt sind, aber nur als Trennwände die Szenen abgrenzen.

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Man durchleidet so manche vertraute Situation der vergangenen Monate noch einmal, freut sich an den gelungenen Arrangements und ist am Ende ganz im Sinne des einst von Milva interpretierten Liedes „Hurra, wir leben noch“ einfach froh, dass zumindest diese Phase der Pandemie überstanden scheint.

„Nicht Anfassen!“ Weitere Vorstellungen bis 12.9., 14. bis 17.9., Di bis Sa jew. 19.30, So 18.00, St. Pauli Theater, Karten unter T. 47 11 06 66