Hamburg. Hochkonzentriert, fantastisch besetzt: Der Klassiker von Dostojewski wartet am Thalia Theater mit einer großen Errungenschaft auf.
Die Stille gibt die Richtung vor. Bis weit an die schwarze Brandmauer im Bühnenhintergrund können die Zuschauerinnen und Zuschauer blicken und dort schon die Spieler wie im Chorgestühl aufgereiht sehen. Und es ist, als betrachte auch das Ensemble sein Publikum in ähnlich erwartungsvoller Ruhe; Kräfte sammeln, hier wie dort. Eine Andacht, ohne unterschwellige Nervosität, ohne Ungeduld. Man findet zu sich, auf beiden Seiten der Rampe, und wenig später auch zueinander.
Die Kontemplation und fast schon obszöne Konzentration, mit der der niederländische Regisseur Johan Simons in seiner vierten Romanbearbeitung am Thalia Theater durch Dostojewskis „Der Idiot“ führt, erinnert in manchem an das Versinken in einem Ölgemälde – auch wenn es weiße Kreide ist, die hier erst den Bühnenboden und schließlich auch die Spieler bedeckt, ihre Haare, ihre Kleidung, ihre Haut. Keine Figur übersteht den Abend makellos.
Dabei legt sich die pudrige Schicht zunächst wie ein jungfräuliches, allerdings scharfkantig sortiertes Schnee-Schachbrett über die ansonsten weitgehend karge Szenerie (Bühne: Johannes Schütz), nur ein Himmel nackter Glühbirnen hängt über den schlichten Holzstühlen, denen ausgerechnet das Rückgrat fehlt. Am Schluss, ganze viereinhalb Stunden später, wird bloß noch eine einzige von ihnen die Kraft zum Leuchten haben.
"Der Idiot" am Thalia Theater: Es wird existenziell
Johan Simons befragt mit Dostojewski – unter anderem – das Wesen und die Spielarten von Liebe, Besessenheit, Verzweiflung, Freundschaft, Schmerz, Spiritualität und Glauben. Es wird existenziell. Simons fordert, aber er bietet auch Zugänge an, öffnet Räume, überwältigt sein Publikum nicht offensichtlich, sondern lässt es dieses Monumentalwerk durchschreiten, aushalten, (wieder) entdecken und erkunden. Es ist dabei nicht allein: „Ich bin so lange nicht mehr in Russland gewesen...“, gesteht auch Jens Harzer als Fürst Myschkin.
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Aus einem Schweizer Sanatorium kehrt er zurück, bereit, die Welt wie ein Kind zu betrachten, absolut unvoreingenommen, grenzenlos naiv. Sein Auftauchen – in räudiger Pelzkappe, mit staunend geschürzten Lippen – und seine gnadenlose Reinheit und Ehrlichkeit wird das ohnehin nicht unkomplizierte Beziehungsgeflecht einer ganzen Reihe von Menschen fundamental erschüttern. Er begegnet dem reichen Erben Rogoschin, der verrückt ist nach der exzentrischen Nastassja.
Er besucht die Generalin Jepantschina (streng: Christiane von Poelnitz) und trifft dort auf ihre spöttische Tochter Aglaia (kraftvoll, leidenschaftlich und mokant: Maja Schöne). Er lernt den jungen, etwas schlichten Ganja (Steffen Siegmund) kennen, der heiraten und reich werden will und ein Porträt von Nastassja bei sich führt, sich aber trotzdem um Aglaia bemüht. Und auch Fürst Myschkin findet sich bald zwischen eben diesen beiden Frauen wieder.
Zu den stärksten Szenen am Thalia gehören die Dialoge
„Wir alle sind Originale! Man sollte uns alle hinter Glas setzen für zehn Kopeken Eintritt!“ stellt die Generalin an einer Stelle fest – der Preis dürfte jedoch nicht nur für den Fürsten deutlich höher liegen. Unheilbar krank ist nämlich nicht nur der entlassene Patient, sondern vor allem die moralisch verkommene, entfremdete Gesellschaft. An den Verrat und die (aussichtslose) Hoffnung auf Erlösung erinnert der Gekreuzigte persönlich: „Der Leichnam Christi im Grabe“ auf einem lebensgroß-querformatigen Bild von Hans Holbein dem Jüngeren verbreitet jedenfalls keinen Optimismus, ebenso wenig die sporadische, düstere Klavierbegleitung durch Per Rundberg.
Zu den stärksten Szenen gehören die Dialoge zwischen Myschkin und Rogoschin, den ein fantastisch vehementer Felix Knopp mit jovialer Kerligkeit durch den weißen Staub tänzeln lässt. Das ideale, trotzdem alles andere als stereotype Gegengewicht zum ätherischeren, stets suchenden, immer leicht nölenden Harzer. Und vielleicht ist das auch – neben der Genauigkeit, mit der Johan Simons die jeweiligen Konstellationen und Abhängigkeiten arbeitet – die große Errungenschaft dieses Abends: die bemerkenswerte Ebenbürtigkeit aller Kräfte.
Marina Galic als Nastassja: furchtlos und zutiefst verwundbar
Als Idealbesetzung erweist sich neben Jens Harzer auch Marina Galic als Nastassja. Sie ist die Sünderin, die Büßerin, der Fürst Myschkin hingebungsvoll die Füße wäscht. Sie zeigt sich zugleich furchtlos und zutiefst verwundbar: Wie Maria Magdalena auf manch altem Heiligenbild ist sie immer wieder halb entblößt.
Und noch ein Verweis auf die jüngere Kunstgeschichte findet sich in Galics Nastassja, die Ähnlichkeit der Anordnung ist zumindest frappierend: Gleich zu Beginn erinnert eine Szene an Marina Abramovićs meditative, angstfreie Ausdauer-Performance „The Artist is Present“. Die Künstlerin ist anwesend, sie ist da, ganz im Moment, stur und sanft. Wie Abramović vor einigen Jahren im MoMa schweigt nun Galic aufrecht auf einem Stuhl, das lange dunkle Haar offen über einer Schulter, und setzt sich dem Blickduell mit ihrem Publikum aus.
Es muss anstrengend sein, auch wenn sie es nicht so aussehen lässt. Nastassja liefert sich aus, den Männern, den Zuschauern, den Urteilen. Es scheint paradox, aber gerade in der Entblößung, der Schamlosigkeit und Zeigefreudigkeit, mit der diese Frau später keck ihren Speck schüttelt, liegt ihr Weg, Distanz zu halten.
"Der Idiot" im Thalia Theater: Nastassja liefert sich aus
Rettung findet sie trotzdem nicht; gemordet von Rogoschin endet ihr geschundener Leib parallel zum Leichnam Christi. Von vielen berückenden, ikonischen Bildern, die Johan Simons findet, ist dies eines der eindrücklichsten.
Und während Harzers Myschkin unermüdlich gegen den Untergang anredet („Bevor wir alle im Dunkeln verschwinden...“), wirkt das Theater schließlich wie das beste Mittel dagegen. Der eine war lange nicht in Russland, die anderen lange nicht im Theater. Letztere Rückkehr geht, trotz und wegen der Uferlosigkeit des Abends, eindeutig besser aus.
„Der Idiot“, Thalia Theater, wieder am 7.9., 19 Uhr, 12.9., 17 Uhr, 21.9./22.9./5.10./12.10, jew. 19 Uhr, Thalia Theater, Karten unter T. 328 14-444