Hamburg. Doris Knecht liest im Hamburger Literaturhaus aus ihrem neuen Roman. Eine Studie über toxische Männlichkeit und Misogynie.
Das Weltweitnetz spannt jede und jeden auf je eigene Weise ein. Und manche eben überhaupt nicht: Kürzlich erst kam die Nachricht, dass etwa in Deutschland knapp acht Millionen Menschen gar nicht das Internet nutzen.
Vielleicht sind sie nicht die Ahnungslosen, sondern die Glücklichen. Ihnen kann zum Beispiel nicht das zustoßen, was Ruth durchmachen muss. Ruth ist seit vier Jahren verwitwet, lebt auf dem Land, hat aber auch eine Wohnung in der Stadt. Arbeiten kann sie als Drehbuchschreiberin überall. Ein Sohn lebt in Amsterdam, ein anderer noch bei ihr zu Hause. Beide sind so selbstständig wie ihre Stieftochter, die hochschwanger ist, als die Handlung von Doris Knechts neuem Roman „Die Nachricht“ einsetzt.
Stalking-Kampagne gegen die Hauptfigur
Ruth ist leidlich glücklich, die Trauer über den Verlust des Ehemanns ist abgedimmt auf ein erträgliches Maß. Dann verändert sich alles: Sie liest, anonym, eine erste Facebook-Nachricht auf ihrem Handy. „Weisst du eigentlich von der Affaire deines prächtigen Ehemannes“, so steht es in harten Lettern auf dem Display. Die Gemeinheit aus dem völligen Off – woher soll Ruth wissen, wer ihr da die Laune verderben will? – ist nur der Anfang einer Stalking-Kampagne, die jemand gegen Ruth fährt.
Wer das Internet zwar grundsätzlich, aber ohne dessen Netzwerk-Funktionen nutzt, für den ist das digitale Schlachtfeld ein gänzlich unbekannter Ort. Aber er darf sich genauso wie alle Twitter-, Instagram- und Facebooknutzer gruseln angesichts dessen, was da in einem Normalo-Leben mit einem Male los ist.
Die Mitteilungen sind beleidigend und verstörend
Nicht nur Ruth bekommt Nachrichten mit erstaunlich informierten, vor allem aber hochgradig böswilligen Sätzen, die ihre Lebensumstände betreffen; die Nachrichten gehen auch an Familie, Freunde und Kollegen. Es sind Behauptungen, die sie herabsetzen, Beschimpfungen, Beleidigungen („Scheissfotze, die jeden fickt, Beine breit macht für jeden Schwanz“): Es wird das ganze ekelige Repertoire des verbalen Randalierens eingesetzt.
Ruth versucht, das Geschehen weitgehend auszublenden. Ihrer Peergroup sagt sie, sie solle die verstörenden Benachrichtigungen ignorieren. Was beides fraglos nicht gelingen kann. Ruth stellt Mutmaßungen über den Troll an, der sie Hass überzieht. Ist es die Frau, mit der ihr Mann ins Bett stieg? Kann die genug über ihr Leben wissen, um sie einem derartigen Martyrium zu unterziehen?
Atmosphäre von Unheil und Bedrohung
Die 1966 in Vorarlberg geborene österreichische Erzählerin Doris Knecht verdichtet in ihrem neuen Roman eine Atmosphäre des Unheils und der Bedrohung zu einem Endspiel um die Glaubwürdigkeit ihrer bedauernswerten Heldin. Die lässt Knecht aus der Ich-Perspektive vom unstabil gewordenen Alltag berichten.
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Sie hat eine On/Off-Beziehung mit einem Uni-Dozenten und Kinderpsychologen aus der Schweiz. Simon hat nach dem Unfalltod ihres Mannes Ruths Sohn behandelt. Er ist ein Mann mit Renommee und tritt auch im Fernsehen auf. Aber er hat eine sinistre Vergangenheit, findet Ruth heraus. Ein nicht unbedingt sympathisches Verständnis von romantischen Beziehungen hat Simon zudem.
„Die Nachricht“ macht nachdenklich
Der geplagten Ruth, die nie in Selbstmitleid oder Raserei verfällt, bemächtigt sich ein Resignieren, ein stilles, zunehmend einsames Enttäuschtsein. Als sie ihrem Umfeld mitteilt, wen sie im Verdacht hat, der Absender der Nachrichten zu sein, schenkt man ihr keinen Glauben. Überhaupt, Ruth wird selbst in gewisser Weise zur Schuldigen, weil es einfach nicht aufhört. „Die Nachricht“ ist ein nachdenklich machender Roman über digitale Tyrannei und persönliche Machtlosigkeit: Die Parallelwelt des Internets infiltriert leicht die echte und kann, Fälle von Cybermobbing sind Legion, Menschen in den Abgrund treiben.
Vor allem ist der Roman aber auch eine Studie toxischer Männlichkeit und grassierender Misogynie. Ruth ist nicht die einzige Frau, der in diesem Erzählwerk übel mitgespielt wird. Es sind Männer, die übergriffig und gewalttätig werden, und leider werden sie, obwohl ihr Tun allemal justiziabel ist, keineswegs immer zur Rechenschaft gezogen.
Doris Knecht stellt ihren Roman am 26. August im Literaturhaus vor. Beginn 19.30 Uhr, Rainer Moritz moderiert.