Hamburg. Auf allen Ebenen glänzend gelungen: Die Übersetzung des Bestsellers „Herkunft“ auf der Bühne des Thalia Theaters an der Gaußstraße.

Im Bühnenlicht sieht er dem echten Saša sogar ein bisschen ähnlich. Es kommt darauf nicht an, natürlich nicht, aber es ist auch schwer, das während der Premiere nicht wenigstens mit einem kurzen Seitenblick zu registrieren. Denn der reale Saša Stanišić sitzt ja mitten im Publikum und begegnet sich selbst. Er schaut seiner eigenen Geschichte zu. Einem Schauspieler beim Saša-Sein.

„Ich vertraue so einem Leben nicht“, heißt es an einer Stelle im Text, was auch diese Ebene – das Aufeinandertreffen von Realität und behaupteter Wirklichkeit nämlich – schön spiegelt. Eine Prise Zweifel, eine Idee Trotz, eine Spur Unsicherheit. Zum zweiten Mal aber hat der in Hamburg lebende und im damaligen Jugoslawien geborene Schriftsteller Saša Stanišić doch dem Thalia Theater einen seiner Stoffe anvertraut. Nach „Vor dem Fest“ steht nun auch sein stark autobiografischer Roman „Herkunft“, ein Bestseller, für den Stanišić 2019 den Deutschen Buchpreis erhielt, im Spielplan des Thalia an der Gaußstraße.

„Herkunft“ am Thalia Theater: Große Verantwortung für Regisseur Sebastian Nübling

Die Verantwortung, die Regisseur Sebastian Nübling und sein nur vierköpfiges Ensemble dabei übernehmen, hat es in sich. Nicht nur, weil viele Menschen die Romanvorlage gelesen haben, sondern vor allem weil es eine so persönliche Geschichte ist, die hier erzählt wird. Eine intime, nahegehende, schmerzhafte, irrsinnig vielschichtige, dabei immer wieder verblüffend leichte, schräge und komische Geschichte über Erinnerung und Zugehörigkeit, Familie und Flucht, Vertrautheit und Fremde.

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Keine ganz leichte Aufgabe also – aber die Übersetzung dieser hintergründigen Selbstbefragung, sogar des eigenwilligen, mal tastenden, mal lakonischen Tonfalles, auf die Bühne ist tatsächlich auf allen Ebenen glänzend gelungen.

Schwarze Schatten der Vergangenheit

„Woher kommst du?“, diese Frage steht im Zentrum. „Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr“, lautet einer der Kernsätze des Romans. Und das sieht man hier: Alles ist bleiern übertüncht, die Erinnerung eine Art schwarzes Loch, aus dem das Licht und die Sicherheit und die biografische Unbeschwertheit verschwunden sind (Bühne: Evi Bauer).

Die Waschmaschine, der stufenlos verstellbare Fernsehsessel, dessen Fußteil die Großmutter (zierlich und störrisch: Lisa Hagmeister) gedankenverloren hinauf- und hinabsurren lässt, ihre Koffer-Parade, die Zimmerpflanze, die übersichtliche quadratische Spielfläche – alles schwarz. Schwarze Schatten der Vergangenheit. Nur die Spieler stechen daraus knallig hervor (Kostüme: Pascale Martin) und das kleine Schild, auf dem in bunten Lettern zunächst verheißungsvoll „WELCOME“ leuchtet. Bis das „L“ ausfällt.

 Und ein achselzuckendes „WE COME“ übrig bleibt. Wir kommen. Aus dem Hintergrund blinzelt Vučko, das ebenfalls komplett geschwärzte Maskottchen der Olympischen Winterspiele von Sarajevo. Ein Vorkriegs-Relikt. Eher bedrohlich als niedlich wirkt diese mannshohe Wolfsfigur, deren Augen flirren und flackern, permanent scheinen sie das Geschehen zu kommentieren.

Klagegesänge und treibender Balkan-Pop

 Die Unruhe, die das transportiert, die Nervosität, liegt unter dem gesamten Abend, dem Polina Lapkovskaja (Pollyester) eine weitere entscheidende, weil hochemotionale Ebene hinzufügt: die Musik. Düsteres Dröhnen, schmerzhaft lauter Techno, bis in die Eingeweide rumpeln die Bässe.

Dazu Klagegesänge und treibender Balkan-Pop, gesungen von der im serbischen Priboj geborenen Schauspielerin Vernesa Berbo. Berbo gastierte mit Yael Ronens „Common Ground“, einer zu den Lessingtagen eingeladenen Produktion des Maxim Gorki Theaters, schon einmal mit einem Stück zu den Jugoslawien-Kriegen am Thalia Theater. Hier übernimmt sie mehrere Rollen, ist mal Mutter, mal Großmutter, die aus klackernd fallenden Nierenbohnen das Schicksal behauptet.

„Ich denke, dass es nichts Schlimmeres gibt, als zu wissen, wo man hingehört – dort aber nicht sein zu können.“ Das gilt nicht nur für die Figur Saša, den Sebastian Zimmler mit enorm präsenter Körperlichkeit spielt und tänzelt, staunend, unsicher, erschöpft, aber auch pubertär mackerhaft (und übrigens am Fußball ziemlich souverän).

Bemerkenswerter Parforceritt von Maike Knirsch

 Auch seine in die Demenz abgleitende Großmutter tastet sich durch die Erinnerungslücken, beider Welt steht Kopf. Ein Bild, das Nübling seine Spieler wörtlich umsetzen lässt. Die übrigen Rollen übernimmt Maike Knirsch und liefert damit einen bemerkenswerten Parforceritt ab. Mit scheinbar unbegrenzter Energie rennt und hopst sie durch die Szenerie, ein zartes, zähes, leuchtendes Kraftpaket.

„Herkunft“ ist in der Gaußstraße nicht das Jahrhundert-Epos, das Jette Steckel mit „Brilka“ auf die große Thalia-Bühne brachte. Aber auch diese kleine, konzentrierte Form funktioniert. Nübling und seine Schauspieler vermögen es, für etwas so Komplexes und Fragiles wie die Mehrzahl von „Heimat“ Räume und Bilder zu finden – und eben nicht bloß Bilder, sondern Stimmungen.

Die Sehnsucht, die Absurdität, das Kaputte, das Fassungslose, das Feinnervige – alles existiert hier gleichberechtigt nebeneinander. Für einen Theaterabend kann man sich eigentlich nicht viel mehr wünschen.

„Herkunft“, Thalia/Gaußstraße, wieder am 4.9., 20 Uhr, und 5.9., 19 Uhr (ausverkauft, ggf. Restkarten an der Abendkasse), thalia-theater.de