Hamburg. Eine österreichische Performance-Gruppe dreht Thomas Mann respektlos auf links – Premiere beim Sommerfestival in Hamburg.

Im Uebel & Gefährlich glimmt schummriges Licht von den Deckenlüstern. Der Geruch von abgestandenem Bier und Rauch ist verflogen. Pandemie-bedingt ging in dem angesagten Feldstraßenbunker-Club schon lange kein Konzert mehr über die Bühne. Genau jetzt erwacht er aus seinem Dornröschenschlaf. Eine glamourös – und auch ein wenig halbseiden – aufgemachte Tischgesellschaft erhebt sich und beginnt zu Johann Strauss’ Walzer „An der schönen blauen Donau“ Runden im Saal zu drehen.

An einer gegenüberliegenden Bar wird auf das neue Jahr angestoßen. Die hier feiern, sind Teil einer Kaufmannsdynastie; wie einst die „Buddenbrooks“ in Thomas Manns legendärem Romanklassiker. Nur, dass sie für gewöhnlich ihre Geschäfte im Neonlicht abschließen und sich nicht in der Getreide-, sondern in der Vergnügungsindus­trie verdingen. Ein hochgewachsener Lude lädt in eine dunkle Gasse. Er nennt sich ganz wienerisch „Strizzi“, und das muss so sein, denn hier probt gerade die Wiener Performance-Gruppe Nesterval gemeinsam mit dem Team der Kampnagel-Queereeoké-Party ihr neues Stück: „Sex, Drugs & Budd ’n’ Brooks“.

Weltpremiere beim Sommerfestival auf Kampnagel

Weltpremiere feiert die Produktion am 5. August beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel. Im vergangenen Jahr hatte die Gruppe mit dem „Willy-Brandt-Test“ ein viel diskutiertes Zoom-Theaterstück über die Zukunft der Sozialdemokratie gezeigt. Die österreichische Version „Der Kreisky-Test“ erhielt 2020 sogar den Nestroy-Spezialpreis. Bei Nesterval werden die Zuschauer zu einem integralen Bestandteil des Abends, diskutieren mit, fällen moralische Urteile – und bestimmen über den Fortgang der Handlung. Immersiv nennt man das.

Dieser sehr spielerische Zugang zum Theater kommt nicht von ungefähr. Martin Finnland, Vordenker und Erfinder des Nesterval-Universums, hat in seiner Jugend viele Stunden vor einer Super Nintendo Konsole verbracht. Parallel zum Wirtschaftsstudium besuchte er mindestens ebenso häufig, auf günstigen Stehplätzen, das ehrwürdige Wiener Burgtheater. „Ich habe diese Verbindung aus Spiel und Theater immer spannend gefunden“, erzählt Finnland in schönstem gedehntem Wienerisch in einem der Uebel&Gefährlich-Büroräume, die er herrlich „schnoddrig“ findet. „Warum kann ich nicht auch als Theaterbesucher schauen, was Mephisto hinter der Bühne treibt, während Faust vorne seinen Monolog hält?“ Dieses Einlassen auf mehrere Variationen eine Stückes bereitet ihm sichtlich Vergnügen.

Klassiker ,Buddenbrooks‘ neu gedacht

Martin Finnland, Regisseur der Performance-Gruppe Nesterval.
Martin Finnland, Regisseur der Performance-Gruppe Nesterval. © Michael Rauhe / FUNKE Foto Services

Nach dem letzten Polit-Stück wollten die Performer wieder etwas Lustvolles machen. „Einen größeren Bruch, als einen Klassiker wie die ,Buddenbrooks‘ und die lebendige, offene Hafenstadt mit ihrer Clubkultur zusammenzubringen, gibt es kaum“, sagt Finnland, „wenn das einer versuchen darf, dann nur lustige Österreicher – denen kann man dann eh alles verzeihen.“ Sommerfestival-Leiter András Sie­bold stellte den Kontakt zum Club her, Finnland war gleich begeistert. Die alten Tapeten und Lüster, die vielen aparten Details in den Backstage-Räumen.

„Das hat viel von Wien und von Österreich. Der alte Glanz, der mal schön war und immer noch schön, aber eben alt ist.“ Eingefleischte Thomas-Mann-Fans werden viele der bekannten Zitate erkennen. Eine tiefere Vertrautheit mit dem Stoff ist aber keine Voraussetzung für den Besuch der Vorführungen. „Wir hoffen, dass jeder, der die Geschichte kennt, das mit einem Schmunzeln annehmen kann“, sagt Martin Finnland.

Performer studierten vier verschiedene Variationen ein

Erzählt wird über eine Zeitspanne von 1965 bis heute die Geschichte des wilden Rock ’n’ Roll in einem Club namens „Budd ’n’ Brooks“. Es geht um glanzvolle Zeiten, aber auch um das Clubsterben im Angesicht der Corona-Pandemie. Von Verfall und inneren Konflikten bedroht ist hier die aus Österreich eingewanderte Familie Nesterval. Statt mit Getreide handelt sie mit der Ware Mensch – samt den damit verbundenen Ambivalenzen. Der Theatermacher und sein Team haben im Vorfeld ausführlich rund um die Reeperbahn recherchiert, auch zu den Schattenseiten der Vergnügungsindustrie und der Sexarbeit.

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„Wir lieben es, Fragen aufzuwerfen, wollen aber nicht zwingend die Antworten geben und Dinge werten. Das überlassen wir dem Publikum.“ Das wiederum darf sich im Laufe des Abends eigene Gedanken zur Frage nach den Ursachen des Niedergangs machen und über den Fortgang der Handlung mitentscheiden. Mindestens vier verschiedene Variationen haben die Performer einstudiert. Die Besucher werden nicht nur eine lustvoll erzählte Geschichte erleben – sondern auch Gelegenheit zu einem anschließenden Gespräch haben.

Systemkritischer Ansatz lädt zum Nachdenken ein

Wie alle Nesterval-Abende hat auch dieser sowohl einen vergnüglichen als auch einen systemkritischen Ansatz und befasst sich mit der Logik des Kapitalismus. „Eigentlich geht es um die Erkenntnis, dass es kein Glück geben kann, ohne dass jemand anderer ein Unglück davonträgt“, sagt Martin Finnland.

Schon jetzt ist diese Verfallsgeschichte einer Familie zugleich auch jene einer Club-Auferstehung. Zumindest für die Zeit des Sommerfestivals.

Nesterval & Queereeoké: „Sex, Drugs Budd ’n’ Brooks“ 5. bis 7.8., 11. bis 14.8., 18. bis 21.8., jew. 20.00, Uebel & Gefährlich, Feldstraße 66, Internationales Sommerfestival 4. bis 22. August, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de