Hamburg. Thomas Hengelbrock und seine beiden Balthasar Neumann Ensembles streamen Bachs h-Moll-Messe. Ein Konzertereignis.

Landauf, landab üben sich Ensemble- und Orchestermusiker darin, wie man auf 1,50 Meter Abstand noch nach Gruppe klingen kann. Geben ein Vermögen für Plexiglas-Spuckschutzwände aus. Laufen, sowie sie von ihrem Sitzplatz aufstehen, unkenntlich maskiert herum wie Bankräuber. Wenn sie überhaupt noch zusammen arbeiten (dürfen).

Und dann kommt das Balthasar Neumann Ensemble und macht einfach nicht mit bei dieser neuen Normalität. Der Konzerttermin mit Bachs h-Moll-Messe in der Elbphilharmonie wurde abgesagt? Nun, dann wird das Stück eben erarbeitet und die Aufführung im Internet gesendet. Aber ohne Sicherheitsabstände.

Das Stück wird behutsam im Raum inszeniert

Hinter der Idee steckt keiner jener Schreihälse, die den Begriff des Querdenkens korrumpiert haben, sondern der unbedingte Wille, dem Werk genau die Rahmenbedingungen zu geben, die es braucht. Dafür haben sich die Ensembles – es sind zwei, Chor und Orchester – zusammen in Hamburg in Quarantäne begeben und wurden engmaschig getestet. So hatten sie es bereits im Sommer im Dortmunder Konzerthaus mit Haydns Schöpfung gehalten und nach den ersten Monaten allgemeiner Verunsicherung zur Saisoneröffnung ein Zeichen gesetzt, damals allerdings vor Publikum. Die klare Botschaft: Wir machen trotzdem weiter. „Kyrie eleison“, beginnt die h-Moll-Messe: „Herr, erbarme dich!“ Schon dieser Tutti-Aufschrei, wenige Takte kurz, verfehlt seine Wirkung selbst vor dem Bildschirm nicht. Diese Intensität wird zwei Stunden lang anhalten.

Das liegt auch an der optischen Präsentation. Das Technikteam hat die Aufführung nicht einfach frontal abgefilmt, sondern das Stück behutsam im Raum inszeniert. Der Große Saal ist diskret farbig ausgeleuchtet, so kann ein weichgezeichnetes Detail schon einmal an ein Kirchenfenster erinnern. Die Kameras zeigen aus immer anderen Blickwinkeln einzelne Mitwirkende. Dabei kommen sie den Gesichtern bisweilen so nah, dass man sich wie ein Voyeur vorkommt, gerade bei den Sängern, bei denen die Empfindungen sich ungefiltert in der Mimik abbilden. Diese Nähe muss man mögen – und man muss sich auch damit abfinden, nicht selbst entscheiden zu können, wohin man gerade schauen möchte.

Spiel mit Atem und Zeitmaß

Vor sechs Jahren waren Hengelbrock und „Balthe“, wie die beiden Elite-Ensembles in Musikerkreisen genannt werden, mit der h-Moll-Messe in der ­Laeiszhalle zu Gast. Die Besetzung ist natürlich mittlerweile eine andere, das Niveau im Vergleich mit der Erinnerung noch ein bisschen weiter in schwindelnde Höhen gestiegen. Einige Effekte gestaltet Hengelbrock weniger extrem, aber die Handschrift ist noch dieselbe. Die Unbedingtheit des Ausdrucks, die Lebendigkeit des Chorklangs, der statt strikt monochromer Homogenität noch individuelle Färbungen zulässt, das Spiel mit Atem und Zeitmaß. Die innige Verbindung der Gesangssolisten mit der himmelhoch jubelnden Solovioline im „Laudamus te“ oder mit der Terzenseligkeit der Fagotte im „Et in spiritum sanctum“.

Die h-Moll-Messe ist für Thomas Hengelbrock das bedeutendste Werk der Musikgeschichte. Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein da. Bach hat das Werk ersichtlich nicht für den liturgischen Gebrauch geschrieben, dazu ist es viel zu groß dimensioniert. Er zieht mit ihm gleichsam die Summe seines kompositorischen Könnens.

Rasante Tempi

Eine Kathedrale, feinziseliert bei aller Größe. Ein Vermächtnis. Todesschwärze und Freude, für beides ist Platz in diesem Werk. Bachs Spektrum an Stimmungen reicht von der schleppenden Trostlosigkeit des „Crucifixus“, in dem das Orchester die Klage des Chors mit statischen Akkorden grundiert, als wäre nirgends mehr Raum für Bewegung, bis zum trompetengolden festlichen „Sanctus“.

Coronavirus – die Fotos zur Krise

So lässt es sich Hengelbrock nicht nehmen, immer wieder einen tänzerischen Duktus anzuschlagen. Den Eingangschor nimmt er in gemessenem Tempo und dehnt die schmerzlich absteigenden Bögen, aber schon das folgende Duett „Christe eleison“ ist von dem feinen Schwung beseelt, mit dem die Sopranistinnen Stephanie Firnkes und Agnes Kovacs ihre Arabesken in die Luft malen.

Die Chorsätze funkeln nur so, die rasanten Tempi fordern keinerlei Tribut, nicht einmal bei „Cum sancto spiritu“, der berüchtigtsten unter den vielen gefürchteten Chornummern der Messe. Stets bleibt das Stimmengewebe durchhörbar, die Textdeklamation ist tadellos. Und das Orchester federt, groovt und geht in jede noch so feine Verästelung mit.

Die Chormitglieder singen auch die Solopartien

Es ist ein Markenzeichen des Chors, dass die Mitglieder auch die Solopartien übernehmen und sich damit abwechseln – auf höchstem Niveau. Da verkörpert der Bass Daniel Ochoa in der Arie „Et in spiritum sanctum“ in berückender Intimität den Menschen im Zwiegespräch mit seinem Schöpfer, ohne sich von dem vielen und sperrigen lateinischen Text beeindrucken zu lassen.

Weitere Streams:

  • Konzerte vor Publikum kann es derzeit in der Elbphilharmonie zwar nicht geben, doch die Mediathek des Konzerthauses ist ausgesprochen gut gefüllt. Wie wäre es zum Beispiel mit Mahlers Neunter, gespielt vom Concertgebouw­orkest unter der Leitung von ­Myung-Whun Chung? Oder mit dem Auftritt des Jazz at the Lincoln Orchestra mit Trompeter Wynton Marsalis? Klavierfans können sich am Duo Claire Huangci/Alexei Volodin erfreuen, die Werke von Mozart, Rachmaninow und Ravel spielen, oder dem Soloauftritt von Anna Vinnitskaya lauschen.
  • Es gibt Fado-Gesang von Ana Moura, ein Porträt des estnischen Komponisten Arvo Pärt, ein DJ-Set von Helena Hauff und den mitreißenden Auftritt von Angélique Kidjo aus dem Benin, die sehr passend zur derzeitigen Situation sagt: „In jeder Dunkelheit gibt es auch ein Licht. Lasst uns im Licht bleiben.“
  • Sämtliche Streams sind im Internet auf elbphilharmonie.de kostenlos abrufbar.

Und nach so schlackenlos reinen Altstimmen wie denen der Countertenöre Terry Wey und William Shelton müssen sich die Komponisten des Barock vergeblich gesehnt haben. Das vielleicht anrührendste Stück hat Bach kurz vor den Schluss gesetzt. Terry Wey singt das „Agnus dei“ im Sitzen, wie für sich, und bei seinem „miserere“ will einem das Herz schier stehen bleiben. Erbarm dich unser, ruft das lyrische Ich, während sich die schlichte Melodie in immer schmerzvolleren Intervallen biegt.

Lesen Sie auch:

Die Seelenreise mündet in das „Dona nobis pacem“ mit seiner großen, milden, schon ins Jenseits weisenden Gebärde. Als es verklungen ist, erheben sich die Künstler und richten den Blick auf die leeren Parkettreihen. Die Ergriffenheit des Publikums bleibt irgendwo in den Weiten des Internets stecken.

Mehr an Miteinander ist im Dezember 2020 nicht zu haben.

Das Konzert ist abrufbar unter www.elbphilharmonie.de/mediathek

Hier können Sie den täglichen Corona-Newsletter kostenlos abonnieren