Hamburg. Das NDR Elbphilharmonie Orchester, Gautier Capuçon und Anna Prohaska im Großen Saal der Elbphilharmonie – und live im Internet.
Unbewegt ruht der Blick auf dem pilzartigen Reflektor im Großen Saal der Elbphilharmonie. Es nicht zu sehen, woher das Stimmen, Zwitschern, Trillern kommt. Ohr und Herz aber wähnen sich einen Moment lang zurück in jenen Zeiten, als die Orchesterkakophonie der Soundtrack zur Erwartung kurz vor Konzertbeginn war: eine Illusion. Wir sind nicht im Saal. Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester spielen an diesem Abend ausschließlich für Kameras und Mikrofone.
Arte überträgt das Konzert im Fernsehen und NDR Kultur im Radio, im Netz gestreamt wird es auch – man hat keinen Aufwand gescheut, und der Auftritt des Orchesters wirkt hochmotiviert und wie blitzblank gewaschen. Das passt zu Gautier Capuçon, dem Solisten beim Cellokonzert von Dvorák. Kein kleiner Finger und kein Haar seiner Mähne wagt es, sich seiner perfekten Kontrolle zu entziehen. Hochvirtuos schäumt die Musik, Capuçon zelebriert die elegischen Momente, lässt sein Goffriller-Cello singen und legt sich in die Kurve, wenn der Herzschmerz mal wieder auf einen Höhepunkt zuläuft – es fehlt nur ein Quäntchen kreatürlicher Wildheit.
Elbphilharmonie: Konzert für Kameras und Mikrofone
Dvoráks Einfallsreichtum bereitet den Künstlern hörbar Vergnügen. Immer wieder zeigt sich Capuçon als Kammermusiker, wenn er mit den Bläsern kommuniziert. Nur schade, dass man nicht erfährt, wer der Gast ist, der die Klarinettensoli so lyrisch und klangfein spielt.
Dvoráks unumwundene Emotionalität kontrastiert scharf mit Mahlers Vierter, die in der zweiten Konzerthälfte erklingt. Ein „Als-Ob von der ersten bis zur letzten Note“ hat der Philosoph Theodor Adorno die Sinfonie einmal genannt. Wenn die Geigen zu Beginn eine volksmusikhaft schlichte Melodie spielen, deuten im Hintergrund dissonante Repetitionen schon darauf hin, dass mit diesem Idyll etwas nicht stimmen kann.
Alan Gilbert poliert die Charaktere auf Hochglanz
Über die vier Sätze hinweg schillert die Atmosphäre zwischen Heiterkeit und Todesschwärze. Gilbert und die Seinen polieren die Charaktere auf Hochglanz. Die Sopranistin Anna Prohaska singt im letzten Satz die Texte aus „Des Knaben Wunderhorn“. Mal lässt sie ihre Stimme weich strömen, dann wieder webt sie dem Klang einen Hauch geradliniger Nüchternheit ein, wie man ihn von Kinderstimmen kennt. Und am Schluss leert sich die akustische Szene, bis die Musik in langen tiefen Harfenschlägen gleichsam verendet. Memento mori. Was für ein gruseliger Kommentar zur Lage.
Das Konzert ist verfügbar auf arte.tv, ndr.de und in der NEO-App