Hamburg. Ulrich Tukur und Christian Redl rezitieren Schiller, Rilke, Kreisler, Heine. Ein starker, melancholischer, witziger Abend.
Ein eisiger Wind pfeift über den Spielbudenplatz, Kiezgänger verkriechen sich unter ihren Schirmen. „Schietwetter“, sagt eine Frau, als sie ihren Knirps zusammenklappt und den Saal im St. Pauli Theater betritt. Der Sommer mit seinen warmen Nächten ist endgültig vorbei. Theodor Storm beschreibt in seinem Gedicht „Herbst“ diesen Abschied: „Seufzend in geheimer Klage / Streift der Wind das letzte Grün; / Und die süßen Sommertage, / Ach, sie sind dahin, dahin!“
Christian Redl spricht dieses Gedicht in einem melancholischen Tonfall und verstärkt so die Wirkung der Zeilen. Der Herbst ist ein wichtiges Thema an diesem Abend, der den Titel „Vom Zauber einer verwehenden Sprache“ trägt. Auch Rainer Maria Rilkes „Herbsttag“ haben Redl und sein Partner Ulrich Tukur für diesen besonderen Abend ausgesucht: „Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren / und auf den Fluren lass die Winde los“.
Für das Re-Opening im St. Pauli Theater nach einer halbjährigen Corona-Zwangspause hat Hausherr Ulrich Waller mit diesen beiden überragenden Schauspielern und der Pianistin Olena Kushpler einen Abend eingerichtet, in dem nur Balladen und Gedichte, von Musik untermalt, rezitiert und interpretiert werden. Wer bei Lyrik an knochentrockenen und quälenden Deutschunterricht denkt, liegt völlig falsch.
St. Pauli Theater: Balladenzauber mit Tukur
Redl und Tukur präsentieren die Balladen spannungsgeladen wie Abenteuergeschichten. Ulrich Tukur erinnert sich an den 16. März 1964: Sein Vater las dem damals Sechsjährigen Friedrich Schillers „Der Taucher“ vor. „Das war meine Initialzündung“, sagt er. Für Christian Redl ist der französische Musiker und Poet Boris Vian die entscheidende lyrische Entdeckung gewesen. „Er hat mir eine neue Welt eröffnet“, gibt Redl zu.
In diesen Zeiten, in denen ein Tweet nur noch 280 Zeichen haben darf und Kommunikation mehr und mehr mit Abkürzungen auskommt, kämpfen die beiden mit ihren Lieblingsgedichten für das Wort: „Sprache gerät in Vergessenheit. Wir stellen uns dem entgegen“, sagt Tukur und erntet viel Beifall von den 160 zugelassenen Zuschauern.
Mucksmäuschenstill ist es im Parkett und im Rang. Niemand wagt zu husten, jeder im Saal folgt konzentriert, wie die beiden Künstler eintauchen in die Welt der Balladen mit ihren pointierten Geschichten und einer Sprache, die uns weitgehend abhanden gekommen ist. Wer würde heute noch den Ausdruck „kecker Finger“ benutzen, wie Friedrich Schiller in seinem „Handschuh“? Im Wechsel tragen die Schauspieler die Texte vor, manchmal sprechen sie Verse wie bei einem „call and response“.
Olena Kushpler hebt den Abend auf zusätzliche Ebene
Melancholische Gedichte wie Joseph von Eichendorffs „Sehnsucht“ wechseln sich ab mit lustigen Reimen wie Georg Kreislers „Der Triangel“ oder Erich Kästners „Der Handstand auf der Loreley“. Dann ist vor allem Tukur in seinem Element. Er gibt seinem Affen Zucker, zelebriert die Komik und unterstreicht den Vortrag mit ausladenden Gesten. Je lockerer die anfangs etwas getragene Stimmung wird, desto häufiger applaudiert das begeisterte Publikum nach jeder gelungenen Nummer.
Eine zusätzliche Ebene bekommt der Abend durch Olena Kushpler, die auf einem erhöhten Podest an ihrem Flügel sitzt und kurze Stücke von Robert Schumann und Franz Liszt, von Arvo Pärt oder Eric Satie spielt. Mit zartem Spiel unterstreicht sie das Elegische der Lyrik, aber mit wuchtigen Akkorden verstärkt sie auch das Dramatische wie bei Conrad Ferdinand Meyers Kriegsballade „Füße im Feuer“. Wechselnde Farben auf der Operafolie im Hintergrund der Bühne und klug überlegte Lichteinstellungen schaffen passende Stimmungen und lassen Poesie und Musik zu einer Einheit verschmelzen.
Bei allem Herbstgefühl hat der Abend im St. Pauli Theater auch eine Reihe komischer Momente. Etwa wenn Redl in Heinrich Heines dramatischem Gedicht „Belsazar“ einen Reim versemmelt und aus dem „König von Babylon“ den „König von Salomon“ macht. Tukur fängt an zu kichern, beide wiederholen die Stelle noch einmal, doch sie kommen in den dramatischen Gestus nicht mehr hinein und brechen den Vortrag unter Lachen ab.
Ulrich Waller freut sich über Publikum
Auch Fritz Graßhoffs zotige Ritterballade über den Herrn Prunz von Prunzelschütz mit seinen gemeingefährlichen Furzen sorgt für befreiendes Lachen beim Publikum und zeigt, wie viel Witz in der deutschen Sprache steckt.
In einer kurzen Eröffnungsansprache hatte Ulrich Waller zu Beginn des Abends gesagt, wie glücklich er sei, dass sich das Publikum getraut habe, ins Theater zu kommen. Angst vor Corona-Ansteckung muss auch niemand haben, über vier Eingänge werden die Zuschauer ins Theater gebracht, die Abstände zum nächsten Nachbarn sind riesig.
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Am Ende des knapp 90-minütigen Abends dürfte jeder im Saal glücklich sein: die Künstler, weil ihnen ein mitreißender Vortrag gelungen ist, und das Publikum, weil es drei wirkliche Könner erleben durfte. Wer diese zauberhafte Aufführung verpasst hat, kann sie im Januar nachholen, dann gibt es eine erste Wiederholung. Später ist geplant, dieses „Best of Ballade“ ins Repertoire zu übernehmen. Dann hoffentlich ohne Corona-Abstand und vor nicht nur ausverkauftem, sondern auch vollem Haus.