Hamburg. Ein Pandemie-Stück sorgt auf Kampnagel für ein ermüdendes Déjà-vu, ein Kanalkonzert für Glücksmomente.

Eines fällt sofort auf: Die Abstandsregeln werden hier nicht mehr eingehalten. Das ist befremdlich, zumal bei einem Abend, der „Virus“ heißt und in der Kampnagel-Halle k1 ausgerechnet eine Pandemie simuliert. Statt sie zu doppeln, hebt die nachgestellte Realität die tatsächliche auf? Die (maskierten) Zuschauer, die hier Mitspieler sind und in unterschiedlichen Grüppchen agieren, kommen sich jedenfalls ganz schön nah.

„Virus“ ist ein partizipatives Rollenspiel, eine Art Pandemie-Activity, das sich der schweizerisch-niederländische Theatermacher Yan Duyvendak ausgedacht und das Internationale Sommerfestival mitproduziert hat. Dass Aufführung und echte Krise nun zusammenfallen (was nicht die Ausgangsidee war), tut dem Abend leider gar nicht gut.

Umsetzung leidet an Realitätsübersättigung

Denn die Idee ist ja nicht schlecht, die Umsetzung aber leidet an Realitätsübersättigung. Wer monatelang als Hobbyvirologe Erfahrung sammeln konnte (also: jeder), darf das alles jetzt noch einmal durchleben. Das Spiel-Ziel: die Zahl der fiktiven Todesfälle einer fiktiven Pandemie zu begrenzen. Dafür müssen die Zuschauer – eingeteilt in die Bereiche „Gesundheit“, „Regierung“, „Bevölkerung“ oder „Sicherheit“ und versorgt mit Neonleibchen und Aufgaben-Umschlägen – „Konferenzen“ und „Krisentreffen“ abhalten, grüne „Geldscheine“ ausgeben, „Bulletins“ verlesen (alle eng am selben Mikro, übrigens), „Impfstoffe“ ankündigen, testen, zurückhalten. Soll man die Grenzen dicht machen oder nicht? Sollen die Schulen geschlossen werden oder nicht? Déjà-vu. Auf einem Tisch warten „Zukunfts-Boxen“, Entscheidungen haben Auswirkungen, schon klar, man kennt das halt alles aus dem echten Leben.

„Ich wollte doch nur Bier trinken“, stöhnt eine Zuschauerin leise und ihre Nachbarin kichert. „Gott, ist das anstrengend“, sagt sie, macht Selfies und zieht immer wieder die Maske unter die Nase. Der Stoff soll hier – eigentlich – das ganze Spiel über oben bleiben.

Jazzige und funkige Arrangements

Atmosphärisch in ganz anderen Gefilden bewegen sich die Gartenkonzerte des Hamburger Musikers Carsten Meyer, sie sind legendär und waren zuletzt ein Renner im Stadtpark. In Pandemie-Zeiten ist aber bekanntlich alles anders, und so freut sich Carsten Meyer, gemeinsam mit dem Perkussionisten Lucas Kochbeck ein Konzert auf der lauschigen Kanal-Bühne des auch in diesem Fall ausverkauften Sommerfestivals zu geben. Das erste seit Januar, wie er sichtlich gerührt verkündet.

Beide sind guter Dinge und haben sich lustige Papierhüte übergestreift. Die Party kann beginnen. Ihre jazzigen und auch mal funkigen Arrangements jagen dem hier zivilisiert und mit gebührendem Abstand sitzenden Publikum bald Wonneschauer über den Rücken und versetzen die Füße in den Wipp-Modus. Das Duo setzt auf lässig interpretierte Klassiker und startet frohgemut mit „I Say A Little Prayer“ von Burt Bacharach. Sanft schnurrende Keyboards, kantige Beats auf der Snare Drum.

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Meyer hat die konzertlosen Zeiten offenbar für den Erwerb eines Stimmverzerrers genutzt, den er hier lustvoll ausprobiert. Mal macht er Ansagen mit tiefer Barry-White-Stimme, dann mit hohem Kanye-West-Organ. „Die Gartenparty fand nicht statt“, singt er und beschwört – Achtung, Ironie – die Feier vor dem Internet, für die man sich noch nicht mal was überziehen müsse. „Jetzt lass uns mal nicht so traurig balladig, sondern funky fröhlich sein!“, ruft er aus. Zum Warmlaufen gibt es das Beatles-Cover „Day Tripper“. Dann wird es psychedelisch-blubbernd im Blaulicht.

Ein „Virus“ bedroht die Welt, fast wie im echten Leben.
Ein „Virus“ bedroht die Welt, fast wie im echten Leben. © Cie Yan Duyvendak

Mit einer Endlosversion eines „Summertime“-Samples (das war ein Hit von DJ Jazzy Jeff & The Fresh Prince Anfang der 1990er-Jahre) drohen sich Meyer und Kochbeck manches Mal im Improvisieren zu verlieren. Die Redefreudigkeit im Publikum steigt. Aber Musik dürfe auch mal fragil und instabil sein, raunt Meyer mit verzerrter Bass-Stimme ins Mikro. Und erhöht anschließend langsam wieder den Puls der Rhythmen. Sehr hübsch singt er von „schicken People“, die um fünf Uhr morgens aufstehen, um ihre „schicken Taschen“ im Stadtzentrum auszuführen. Und wenn er endgültig beim Philly-Soul angekommen ist und auch die Unterschenkel zucken, muss man sich als Zuhörer wirklich zum Sitzenbleiben zwingen.

Bis zum Schluss bleibt diese laue Sommernacht gesittet. Die Gartenparty des Carsten Meyer, sie fand am Ende doch noch statt. Welch ein Glück.

Das Internationale Sommerfestival bis 30.8. auf Kampnagel, Infos: www.kampnagel.de