Hamburg. Zunächst ein Testkonzert, Anfang September der Saisonstart. Spezial-Angebote für Veranstalter entwickelt – mit Rabatten.
60 Zentimeter mehr Höhe wurden installiert, seitdem bietet die Terrasse im Elbphilharmonie-Dach einen viel einfacheren Überblick, über die Stadt, bis zum Horizont, über alles eben.
Für die Arbeit, die Generalintendant Christoph Lieben-Seutter und der Kaufmännische Geschäftsführer Jochen Margedant seit März wegen Corona bewältigen müssen, war und ist so ein Überblick nicht einfach mit etwas Handwerker-Einsatz zu haben. Vor genau fünf Monaten war Schluss mit allem. Schlimm war diese Zeit, nur Stille, keine Perspektiven. Nur Nebel und Warten.
Erste Konzerte in der Elphilharmonie nach Corona
Also: War und ist dieses Jetzt eine existenzielle Bedrohung des Systems Elbphilharmonie, das in der kommenden Woche mit einem Jazz-Testkonzert für geladene Gäste und Anfang September mit einem Brahms-Zyklus des NDR-Orchesters sowie einem Abend mit Anne-Sophie Mutter wieder anfährt?
„Unsere zwei Gesellschaften haben eine gute Chance“, sagt Margedant, „wir leiden weniger als Veranstalter. Aber das gesamte System… Bis der Veranstaltermarkt wieder so ist… Es wird mehr als eine Saison brauchen, bis es sich erholt. Und wir tun alles, um zu vermeiden, dass man Angst vor Ansteckung haben muss.“ Das heißt: 628 Plätze, strikt mit Abstand getrennt, nun also im Großen Saal, statt der seit 2017 dauerausverkauften 2070.
Geschäftsmodell trotz Unterstützung und Spenden bedroht
HamburgMusik (HHM) – grob gesagt: die Abteilung Kunstproduktion - und die Betriebsgesellschaft (ELBG), die beiden Gesellschafts-Säulen von Elbphilharmonie und Laeiszhalle, stehen momentan unterschiedlich kritisch da. Grundsätzlich gilt: Die Stadt gibt einen sehr festen Festbetrag von sechs Millionen Euro pro Saison für den Spielbetrieb, dazu kommt in etwa die gleiche Summe von Sponsoren und aus Spenden.
Doch die frische Betriebsdrucksache, der halbjährlich fällige Kassensturz für die Bürgerschaft, enthält ernste Bedrohungen dieses Geschäftsmodells. Man habe „faktisch keinen Umsatz im letzten Drittel der Saison“ gehabt, die HHM habe 35 Prozent weniger Karten verkauft als geplant, die ELBG habe nur zwei Drittel der geplanten Termine im Großen Saal vermietet. Mache alles in allem, per Hochrechnung zu Ende Juli, ein Defizit von 120.000 Euro in der HHM.
"Hälfte der Einnahmen, bei vollen Kosten"
„Als Veranstalter nichts zu veranstalten und trotzdem Subventionen zu erhalten, ist relativ komfortabel – bis jetzt“, sagt Lieben-Seutter. „Ab jetzt spielen wir Konzerte, für durchschnittlich maximal die Hälfte der Einnahmen, aber bei vollen Kosten. Das heißt: Die Zukunft ist für die HHM eine große Herausforderung.“
So hellrot wie jetzt wird dieser Posten also wohl nicht bleiben. „Mit der Wiedereröffnung verdoppeln wir unsere wirtschaftlichen Risiken“, ergänzt Margedant. Deswegen soll die Wirtschaftsplanung für 2020/21 um eine „allgemeine Risikoreserve“ von zwei Mio. Euro ergänzt werden, über Spenden oder Zugriff auf interne Rücklagen.
"Betrag für alle Fälle" wird zur Corona-Hilfe
In diesem Sparstrumpf sind jene rund fünf Millionen Euro, die es als einmaligen Betrag für alle Fälle zu Beginn des Spielbetriebs von der Stadt gegeben hatte. „Weil die Zahlen gut waren, mussten wir bisher nicht darauf zurückgreifen. Jetzt wird es eine Corona-Hilfe.“
Wie lang das hält? „Das kann schnell leer sein“, berichtet Lieben-Seutter, „das verlangt jetzt geschickte Programmplanung. Wir hoffen, dass wir nicht mehr brauchen. Wenn wir etwas mehr Leute reinlassen dürfen, wird’s wieder besser.“ Die Hauptsponsoren blieben weiter bei der Stange, 95 Prozent der Gelder seien nach wie vor zugesagt.
Verluste von mehr als einer Million möglich
Defizit-Hotspot ist allerdings die andere Hälfte, die ELBG. Einige Kernzahlen: Der Konzertbetrieb-Stopp verursachte dort ein Defizit von 1,2 Millionen Euro pro Monat, trotz vieler Einsparungen, auch durch Kurzarbeit. 32 Prozent Minus bei den Einnahmen aus Vermietung, die Umsatzerlöse seien im Vergleich zum letzten Bericht um 8,6 Mio. Euro gesunken.
Fazit der Zwischen-Bilanz: „Sollte sich die Krise im bisherigen Umfang fortsetzen, ist in der kommenden Saison mit monatlichen Verlusten von mehr als einer Million Euro zu rechnen.“ „Das ist existenzgefährdend“, urteilt Margedant über die „auf Kante genähte“ ELBG, „deswegen sind wir auch so froh, dass die Stadt uns so deutlich gesagt hat, dass sie uns unterstützt. Das Defizit für 2019/20, etwa 2,5 Mio. Euro, wird übernommen. Zur Saison 20/21 sind wir in guten Gesprächen.“
Spezial-Angebot für Veranstalter
Damit sich Konzerte mit gerade 30 Prozent Saalkapazität überhaupt rechnen, gibt es nun ein Spezial-Angebot für Veranstalter, den Doppelbespielungs-Rabatt: Zwei Konzerte hintereinander, also mit maximal 60 Prozent Auslastung, die Miete soll dafür auf durchschnittlich 60 Prozent der Vor-Corona-Rate gesenkt werden.
Die krisengebeutelten Veranstalter reagieren darauf sehr positiv, berichten beide Hausherrn unisono. „Wir machen nicht mehr Verlust als wenn wir geschlossen wären und können deswegen dank der Unterstützung der Stadt einen Beitrag zum kulturellen Leben leisten“, so Margedant. Die Elbphilharmonie-Buchungen liegen bei etwa 75, in der Laeiszhalle (Großer Saal) bei rund 50 Prozent der ursprünglichen Menge.
Bleibt es unter zehn Millionen Defizit?
Der best case der Drucksache für die ELBG klingt sehr optimistisch: Weiter so wie jetzt bis November, weitere Lockerungen bis April mit 50 Prozent Publikum, bis Saisonende der Wegfall aller Beschränkungen. So bliebe es bei knapp unter zehn Millionen Euro Defizit. „Wenn es bei den bis Ende August spielenden Salzburger Festspielen gut läuft“, so Margedant, „können wir bei den Plätzen vielleicht auch zu deren Schachbrettmuster wechseln.“
Dennoch: „Eine Auslastung wie in der Vergangenheit erscheint für die nächsten Jahre eher unwahrscheinlich“, ist die Bilanz der Drucksache. Lieben-Seutters Kommentar dazu: „Jetzt müssen wir uns zur Decke strecken.“
628 Menschen, die gleichzeitig ins Konzert wollen, müssen dafür über die Plaza. „Wir gehen davon aus, dass wir bis zu 1000 Menschen unter Einhaltung des 1,50-Meter-Abstands auf die Plaza lassen können“, erklärt Margedant, „da kann der Besucher, der in einen Konzertsaal möchte, durchlaufen.“ In der Startphase soll der Plaza-Einlass, als Lernprozess, etwas reduziert werden. Foyers und Konzertsäle seien von Anfang an offen.
Klimatechnik für Corona-Umstände geeignet
An der Klimatechnik soll es dort nicht scheitern. „Wir können das Gebäude komplett mit Frischluft fahren“, sagt Margedant, „das ist ein Riesenvorteil. Und in beiden Sälen steigt die Luft vertikal auf.“
Auch beim Großen Saal der Laeiszhalle ist er wegen des Frischluft-Normalbetriebs sehr zuversichtlich. Der Kleine Saal der Laeiszhalle findet im Spielplan nicht statt; Konzerte dort würde sich mit etwa 100 Plätzen nicht rechnen, Veranstaltern wird der Große Saal als Ausweichbühne angeboten.
Mehr als 200.000 Tickets zurückerstattet
Mehr als 200.000 Tickets waren in den vergangenen Monaten zurückzuerstatten; der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. „Ein ärgerliches Thema“, räumt Margedant ein, „es sind immer noch 20.000 bis 30.000 Karten. Wir waren schlichtweg auf diese Situation nicht eingestellt.“ Seit einigen Wochen könne man nun auch ganze Konzert auf einen Schlag stornieren, deswegen hofft er, „bis Ende des Monats alles zurückzuerstatten.“
Anders, aber ähnlich sauer sind jene Abonnenten, denen man erklärt, dass es für sie nun, wegen des Saal-Sitzplans, einzig Zweier-Abos für „Infektionsgemeinschaften“ geben wird. „Wir mussten einen einheitlichen Plan machen, der immer und für alle Veranstalter gilt“, erläutert Lieben-Seutter, „in einem Abo geht sich das gut aus, in einem anderen wird es eng mit Einzelplätzen. Wir versuchen aber, das kulant zu regeln."
„Bei Konzerten von HamburgMusik erhöhen wir den Anteil an Einzelplätzen, indem wir den daneben sperren und verlieren, um Kunden die Möglichkeit geben, allein zu sitzen“, ergänzt Margedant. Und Kartenpreise anheben? „Wenn unsere Kunden uns treu bleiben, müssen wir bei der HHM nicht die Preise erhöhen“, antwortet er, leicht salomonisch.
Ein weiterer Einnahme-Posten: Bislang waren spontane Plaza-Besuche umsonst, die Vorbuchung kostet. „Der kostenfreie spontane Einzelbesuch wird nicht angetastet, der bleibt. Wir arbeiten aber an Formaten im Gruppenbereich und bei Führungen, um die ELBG zu entlasten.“
Seit März: Online-Streams aus der Konserve
In den vergangenen Monaten war vom 110 Meter hohen Kultur-Leuchtturm Elbphilharmonie nichts zu sehen und zu hören gewesen; während andere viele Live-Anstrengungen unternahmen, dort gab es nur Online-Streams aus der Konserve.
Was Lieben-Seutter verteidigt: „Erst Ende Juni wurden die Rahmenbedingungen für Konzerte im Sommer verabschiedet, bis 8. August war das Haus sowieso für die jährlich notwendigen Wartungsarbeiten geschlossen. Da auch unsere Ressourcen endlich sind, haben wir davon abgesehen, kurzfristig für drei Wochen noch mehr Konzerte aus dem Boden zu stampfen, als sowieso schon ab 1. September geplant waren. Wir sind auf Kurzarbeit, hatten unglaubliche Aufwendungen bei der Umplanung von 1300 Veranstaltungen, Hunderttausende von Tickets rückabzuwickeln. Außerdem haben wir in der Schließperiode den Elbphilharmonie-Rundgang neu entwickelt und noch drei Wochen Sommer-Konzertkino im Angebot.“
Wie viele Musiker und Musikerinnen konkret auf die Bühne des Großen Saals passen, ist sehr unterschiedlich. Für deutsche Orchester gelten andere Arbeitsschutzbestimmungen als für französische. Jedes liefert Sicherheitskonzept und Hygieneplan, der wird geprüft, um Problemen vorzubeugen. „Es ist keine fixe Personenzahl zu beachten“, sagt Lieben-Seutter dazu, „es geht immer um das Layout auf der Bühne und die Abstände zwischen Musikern.“
Abwärtsspirale kann Intendant nicht erkennen
Von nun an wird also auf Sicht gespielt, „Monat für Monat, immer mit Beginn des Vormonats“ soll das Programm bekanntgegeben werden, sagt Lieben-Seutter. „Was immer man kreativ mit der Situation machen kann, wird gemacht. Wichtig ist, das Profil dadurch nicht zu vereinfachen, nicht zu sagen: Wenn weniger auf der Bühne sind, spielen wir halt Haydn und Beethoven.“
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Ein weiteres Beispiel für schnelle Kurswechsel: Praktisch alle US-Jazzer haben abgesagt, die wurden durch europäische Formationen ersetzt. Große Orchester können nicht kommen, das extrariesige Busoni-Klavierkonzert mit Pappano und Levit soll in zwei Jahren nachgeholt werden. Stattdessen bleibt das Mahler Chamber Orchestra für mehr Abende als geplant. Eine drohende Abwärtsspirale – weniger Einnahmen, weniger Konzerte, niedrigere Gagen, wenige Stars, deswegen weniger Publikum – kann der Intendant jedenfalls nicht erkennen. „Weniger Konzerte, das kann ich für die HHM nicht sagen. Marginal höchstens. Weniger Stars kann man auch nicht sagen. Und es gibt Künstler, die bei diesen Herausforderungen aufblühen.“
Lieben-Seuter: Keine Karten für Online-Stream
Dass der kleine Sendesaal in Bremen für Live-Konzerte die Möglichkeit anbietet, sich Karten für den Online-Stream zu buchen, hält Lieben-Seutter für sein Riesen-Haus für wenig praktikabel. „Es gibt gute Gründe, warum man das nicht will. Mitschneiden ist enorm aufwendig, und unsere Konzeption von Streams ist mehr eine der Gratis-Verbreitung. Wir haben genügend andere Pläne, die eigentliche Action ist im Konzertsaal. Unser Geschäft ist Live.“
Vor fünf Monaten war die Welt deutlich mehr in Ordnung und Corona nur ein Bier. Die Frage, wo wir in weiteren fünf Monaten sein werden, lässt Lieben-Seutter hoffnungsvoll spekulieren, auf „geringere Kapazitätsbeschränkungen, und dass wir begeistertes Publikum im Haus begrüßen“. Die ersten drei Elbphilharmonie-Jahre, um die ihn wohl jeder in seiner Branche beneidet hat, waren für ihn ein Traum.
Auf die Frage, wie viele lausige es wohl sein werden, die niemand auch nur geschenkt haben möchte, antwortet er: „Klar, es wird nicht mehr ganz so komfortabel sein. Aber wenn irgendein Haus eine Top-Fortbestands-Prognose hat, dann die Elbphilharmonie. Und wenn irgendwo auf der Welt etwas wieder möglich ist, ist es bei uns wieder möglich. Schlimmstenfalls werden wir einige Jahre mit Einschränkungen leben müssen.“