Hamburg. Stehende Ovationen für den Grandseigneur am Dirigentenpult. Wer das verpasste, kann es nachholen – im Saal und im Livestream.

Man könnte das, was sich da am Freitag im Großen Saal Bahn brach, sicher auch mit Routine erklären. Christoph von Dohnányi ist 90, einer der ganz Großen, mit einem Repertoire, das für drei Karrieren Jüngerer reicht. Jedes Orchester, das er in dieser Phase seiner Karriere mit einer Nachhilfe-Runde in Sachen Durchdringung und Intensität beehrt, benimmt sich nicht nur ordentlich. Es entrückt sich selbst in einen Verehrungsmodus, der Dinge möglich macht, die im Saison-Alltag nur teilweise präsent sind.

Doch dann steht dieser ehemalige Chefdirigent vor dem NDR Elbphilharmonie Orchester und – so einfach kann das sein? - alles passt. Alles läuft. Man kann diese Glanzleistung auf die penible Probenarbeit zurückführen, für die Dohnányi bekannt bis gefürchtet ist. Am Ende ist es aber wohl auch, ganz schlicht und nicht erlern-, sondern nur erlebbar: Charisma. Präsenz. Autoritäre Freundschaft. Hingabe.

Tschaikowskys "Pathétique" als gut durchdachte Geduldspartie

Weil es so leicht ist, bei Tschaikowskys „Pathétique“ den wehleidigen Namen zum tränengetränkten Programm werden zu lassen, erfährt diese Sinfonie nicht immer die Behandlung, die sie verdient. Dann wird sie seifig und aufgedunsen und banal. Für Dohnányi ist dieses Stück keine Kutschpartie durch das Reich des Zaren, – sondern vor allem eine große, dunkle, gut durchdachte Geduldspartie mit herausfordernder Musik, die sich aus der Spätromantik verabschiedet.

Die Adagio-Einleitung ließ er ganz langsam vorbeiziehen, wie einen Tristesse-Schub im nebligen Herbst, den man gefälligst aushalten muss. Umso rasanter und geradezu giftig-bissig ging die klarsichtige Untersuchung des ersten Satzes voran. Dohnányi vermied die einfach zu habende Gefühligkeit, er bildete ab, was in den Noten steht. Das passierte in einer Schlüssigkeit, wie sie - selbst angesichts der Dauerbeglückung durch das Elbphilharmonie-Sortiment, nur selten zu hören ist.

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Der fein ausgereizte Walzer im zweiten Satz, die trügerischen Triumphgesten im dritten und anschließend, als subtile philosophische Rückwendung auf den Beginn dieses Konzerts, dieses so ratlos zurücklassende Finale. Dohnányi rückte es in die Nähe einer fatalistischen Weltschmerz-Erfahrung, die man eher bei Mahler erwarten würde.

Stehende Ovationen für Christoph von Dohnányi

So offen, wie das Konzert endete, bevor die stehenden Ovationen kamen, hatte es begonnen: mit Charles Ives‘ „The Unanswered Question“, dem schönsten Was-bin-ich-Moment der Musikgeschichte. Hauchleise Streicherflächen, als Kontrast dazu die sinnsuchende Trompete im Off und die Flötengruppe, die als Paralleluniversum hinter dem Tutti platziert vor sich hin plapperte.

Ligetis Doppelkonzert für Flöte (Henrik Wiese), Oboe (Kalev Kulius) und Orchester – 1972 durch Dohnányi mit den Berliner Philharmonikern uraufgeführt – mit feinst ineinander verlaufenden Klangfarben-Nuancen und mikrotonalen Reibungen war atemberaubend präzise und durch die gleiche Ruhe getragen wie der Tschaikowsky. Kammermusik ohne klassisch erkennbare Solisten, eine sich sanft bewegende Oberfläche aus Tönen, auf der sich das Licht bricht. Ein Traum.

Die Wiederholung des Konzerts wird im Livestream hier übertragen.