Hamburg. John Neumeier gelingt ein außergewöhnlich berührender Ballett-Abend an der Hamburgischen Staatsoper.
Tennessee Williams’ Theaterstück „Die Glasmenagerie“ ist eigentlich als Ballett kaum vorstellbar. Es braucht einige Fantasie, sich zu diesem Kammerspiel und Sozialdrama Bewegungen von Eleganz auszumalen. John Neumeier ist es dennoch anlässlich der Premiere in der Hamburgischen Staatsoper glanzvoll gelungen, aus diesem feinnervigen Stoff, diesem modernen US-Klassiker, großes Ballett zu kreieren. Der Abend, bei dem er Choreografie, Bühnenbild, Licht und Kostüme übernahm, dürfte zu seinen berührendsten zählen.
Nach einem kurzen Intro, das den von Edvin Revazov verkörperten Künstler Tennessee Williams in die Erinnerung an eine noch unbeschwerte Kindheit führt, richtet sich zwischen zwei Feuerleitern das eigentliche Bühnenbild auf: eine tapezierte Wand mit Tür, ein Tisch, zwei Stühle. Neumeier konzentriert sich szenisch auf die Kernfamilie Wingfield und ihre Psychologie. Die Dynamik aus Liebe, Auseinandersetzung, Loslassen spielt sich im Grunde rund um einen Küchentisch ab.
Impulsivität und Dominanz
Das ist klug, und es ist wahrhaft grandios, wie schwerelos sich hier der neue Ensemble-Solist Félix Paquet in der Rolle des Sohnes Tom mit gestrecktem Bein über seine gehbehinderte Schwester Laura, getanzt von der unvergleichlich ätherischen Alina Cojocaru, hinwegschwingt. Die enge Bindung von Bruder und Schwester ist sogleich spürbar. Aber auch die Zerrissenheit Toms, der wenig später auf der Stelle läuft und an der Undurchdringlichkeit einer Glaswand scheitert.
Patricia Friza gibt der Mutter Amanda Wingfield eine vom Leben abgeschliffene Hysterie, Impulsivität und Dominanz. Als Zeitschriftenausträgerin hält sie, Tochter aus großbürgerlichem Südstaatenhaus, die Familie über Wasser. Der einst so glamouröse Gatte, den die umschwärmte Amanda aus einer Schar von Verehrern erwählt hatte, ist längst abgehauen. In Traumszenen dieses „Spieles der Erinnerung“ schleicht Edvin Revazov mal als Offizier, dann wieder als Autor (mit dunkler Perücke) geisterhaft umher, was in manchen Szenen mehr Verwirrung stiftet, als dass es erhellt.
Surreal-traumhafte Situationen
Bald übernimmt Sohn Tom, zerrissen zwischen eigenen künstlerischen Ambitionen und den Zwängen des Malochens in einer Schuhfabrik. Indem sich die Tänzerinnen und Tänzer aufs Feingliedrigste ineinander verschränken, werden Unglück und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Familie sichtbar. Zu sehen sind aber auch Menschen, die in ihrem Zusammensein Halt finden. Die Umstände sind ja nicht rosig im krisenhaften St. Louis der 1930er-Jahre.
Neumeier destilliert aus dem Stoff surreal-traumhafte Szenen von großer Intensität. Etwa wenn sich Alina Cojocaru als fragile Laura in ihre versponnene Leidenschaft für Glasfiguren zurückzieht und sich David Rodriguez als Glaseinhorn mit vollendeter Eleganz vor einer abstrakten Videoprojektion um sie herumbewegt. Der Abend ist mutig und überzeugt jenseits großer Schauwerte oder höfischer Opulenz. Neumeier gibt den Protagonisten des Hamburg Balletts die Gelegenheit, ihre Ausdrucksstärke mit ungewöhnlich modernem Bewegungsmaterial zu verbinden.
Fast musicalartige Varieté-Szenen
Die scheinbar höhepunktlos auf- und abschwellende Musik von Charles Ives, Philip Glass und Ned Rorem, die hier vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter Simon Hewett erstklassig präsentiert wird, verlangt ihnen zudem einiges ab. Auch eine historische Schallplattenaufnahme („I Love You“) kommt auf einem Victrola-Plattenspieler zu Gehör.
Immerhin, ein paar fast musicalartige Varieté-Szenen erhellen das Familiendrama. Mal offenbart sich der Akkord-Mechanismus der Fabrikarbeit durch ein feurig tanzendes Corps de Ballet im Blaumann. Auch die von Laura besuchte Schreibmaschinenklasse zeigt sich in schönster Synchronität beim Papiereinspannen. Und es gibt tolle Gruppentableaus mit saftigen Drehungen und Hebefiguren beim farbenfrohen Tanzvergnügen im Lokal „Paradies“.
Anrührende Schüchternheit
Alina Cojocarus Laura bleibt bei all dem mehr Zuschauerin als Beteiligte. Und doch bildet sie in ihrer anrührenden Schüchternheit und Weichheit das Zentrum dieses Abends. Die rumänische Star-Tänzerin – ein regelmäßiger Gast beim Hamburg Ballett – meistert auch die technisch höchst fordernde Darstellung der mit einem Spezialschuh hinkenden Laura absolut bravourös.
Félix Paquets Tom entdeckt in einer von Neumeier hinzuerdachten Szene das Begehren beim etwas klischeehaften Besuch einer Schwulenbar, in der er auf Marc Jubete als Magier Malvolio trifft. Laura wiederum träumt sich im Kino zum Klassiker „Gone With The Wind“ in die Arme eines Mannes. Die Hoffnung, diesen in Toms Kumpel Jim, lebensfroh getanzt von Christopher Evans, zu finden, schwindet, als dessen Verlobte auftaucht.
Bewegender Höhepunkt
Die Szene, in der Jim die Familie besucht, ist der ein wenig lang geratene, aber bewegende Höhepunkt des Abends. Und es ist glaubhaft, wie der leichtlebige Jim mit der scheuen Laura flirtet, mit ihr voller Hingabe durch den Raum schwebt und ausgerechnet ihr geliebtes Einhorn zerbricht. Mit dem Glastier zerbrechen auch die Sehnsüchte und Hoffnungen dieser gebeutelten Familie.
„Die Glasmenagerie“ ist ein außergewöhnlicher Ballett-Abend, der gelungen auf die körperliche Zeichnung seiner Charaktere setzt. Starker Applaus.
„Die Glasmenagerie“ Weitere Vorstellungen 3., 5., 7., 12., 13.12., jew. 19.30, 26.1.2020, 19.00, Hamburgische Staatsoper, Kartentel. 35 68 68