Hamburg. Bei Iannis Xenakis' brachialer Druckwelle “Jonchaies“ konnte der Große Saal seine Stärken ausspielen – heute geht es weiter.

Es war eine dieser Applausgrößen, die vor wenigen Jahren, vor Wahrwerdung der Elbphilharmonie, längst nicht alle in Hamburg ernsthaft kommen sehen wollten: Über 2000 Menschen – und keineswegs nur bibelfeste Avantgarde-Abonnierte – waren tatsächlich schier aus dem Häuschen, weil sie von einem brachialen Orchesterstück in die Sitze gedrückt wurden, das allerfeinst organisiertes Chaos über sie losbrechen ließ.

Eine Naturgewalten-Vertonung für 109 Musiker – gegen die Strawinskys Skandal-Klassiker „Sacre“ wie eine zahnlose Version von „Hänschen klein“ wirkt und Beethovens „Pastorale“ wie ein sedierter Chihuahua neben Godzilla – mit dem Drive eines Heavy-Metal-Schlagzeugers, der, randvoll mit bestem Koks, mit Baseballschlägern losdrischt. Und da der Verursacher dieser Druckwelle offenkundig auch Humor hatte, endete das Stück hauchzart. Mit einer Piccoloflöte, die schlaff aus dem letzten Loch pfiff. Kichern, Aufatmen, großer Beifall.

Ein großartiger Auftakt zum Xenakis-Schwerpunkt in der Elbphilharmonie

Für Ausnahmezustände wie Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“, 1977 in Paris erstmals von der Kette gelassen, ist der Große Saal dieses Konzerthauses zwar nicht dezidiert gebaut worden; doch bei dieser Musik kann er seine Stärken voll und ganz und toll ausspielen, weil er mit derartigen Extremen umgehen kann. So mitreißend und energiegeladen war dieser Stresstest, dass Hunderte Menschen, die garantiert noch nie einen dieser Ton-Tornados von Xenakis live gehört hatten, hin und weg waren.

Vier höchst unterschiedliche, höchst eindrucksvolle Stücke präsentierten das NDR Elbphilharmonie Orchester und sein sattelfester Gastdirigent Carlos Miguel Prietro aus dem Gegenwarts-Repertoire am Freitag, als großartigen Auftakt zum Xenakis-Schwerpunkt an diesem Wochenende. Das älteste – Messiaens „Le Tombeau resplendissant“, mystisch flirrend und hochdramatisch spirituell - ist über 80 Jahre jung. Das frischeste, das Bratschenkonzert „La Nuit des chants“ von Thierry Escaich, wurde erst vor anderthalb Jahren uraufgeführt. Eine Leistungsschau in vier Kraft-Akten.

Iannis Xenakis, Avantgarde-Komponist der Herzen

Von Unsuk Chin, die am Vorabend im sehr viel überschaubareren Rahmen eines Porträtkonzerts im Kleinen Saal den Hamburger Bach-Preis erhalten hatte, wurde mit „Le Silence des Sirènes“ eine weitere Stil-Facette gezeigt. Anstelle der Sopranistin Barbara Hannigan, für deren bravouröses Darstellungstalent dieser Part 2014 komponiert war, sang nun Nika Goric die halsbrecherisch schweren Wortgirlanden, die sich so verführerisch wie verwegen in die Höhe schraubten. Textfragmente aus der „Odysee“ und aus Joyces „Ulysses“, die aber vor allem durch den Selbstklang der Worte und die Rhythmen der Buchstabendfolgen in Musik verwandelten, auf die das Orchester reagierte, bis der Auftritt in einem stummen, letzten Aufschrei endete.

Doch auch der Bratschist Antoine Tamestit hatte bei Estaich forsch schillernde Passagen zu gestalten, gestützt und getrieben von einem Orchesterfundament, in dem es vor archaischen Rhythmen nur so wimmelte. Wäre der finale Xenakis nicht gewesen, hätte Escaich, der wie Chin anwesend war und bejubelt wurde, als Avantgarde-Komponist der Herzen das Konzerthaus verlassen können. Doch dieser Titel ging letztlich – und verdient – posthum an Xenakis.

Weitere Konzerte im Xenakis-Schwerpunkt: 30.11., 20 Uhr / 1.12., 17 Uhr: Rundfunksinfonieorcheter Berlin mit Werken von Xenakis, Messiaen und Christou. 1.12. 20 Uhr: Ensemble Resonanz mit Musik von Xenakis. Evtl. Restkarten an der Abendkasse. www.elbphilharmonie.de