Hamburg. Das Internationale Gastspiel „Saigon“ in Hamburg: An einem Stadttheater hätte ein solches Stück nicht entstehen können.

Es ist eines dieser typischen vietnamesischen Restaurants, wie es sie auch jenseits von Südostasien zuhauf gibt. Einfaches Rohrgestühl, Neonlicht, Ventilatoren, offene Nudelküche, ein Foto der malerischen Halong-Bucht an der Wand – und eine blumig dekorierte Karaoke-Bühne. In Caroline Guiela Nguyens Theaterabend „Saigon“, den sie mit ihrer Kompanie Les Hommes Approximatifs über einen Zeitraum von zwei Jahren erarbeitet hat, ist das detailfreudig auf der Bühne errichtete Lokal ein Ort zwischen den Zeiten.

Angesiedelt in den Jahren 1956 und 1996, mit den Themen Emigration, Erfahrung des Exils, eventuelle Rückkehr. Es ist vor allem aber auch ein Ort der gescheiterten Hoffnungen und vieler Tränen. Für zwei Abende ist „Saigon“, das seit zwei Jahren erfolgreich um die Welt tourt, nun im Thalia Theater angekommen, als zweites Gastspiel der Reihe Thalia International.

Mit poetischen Bildern, aber auch fein verwobenen Geschichten eröffnet die Produktion in französischer und vietnamesischer Sprache (mit deutschen und englischen Übertiteln) erhellende und differenzierte Perspektiven auf die langfristige Folgen der Kolonisierung. Der Abend beginnt im Paris des Jahres 1996. In einem der 900 Restaurants mit Namen „Saigon“ in der französischen Hauptstadt, von der vietnamesischen Emigrantin Marie Antoinette und ihrer Nichte Lam mit Herzblut geführt.

Die Hoffnungen und Sehnsüchte der Exilanten

Das Lokal wird schnell zum Mikrokosmos den Globus umspannender Lebensläufe. Und nicht immer wärmt die Suppe gegen Einsamkeit und Isolation. Es ist ein Raum, an dem gekocht, gesungen, geheiratet, gestritten und Adieu gesagt wird. An diesem Abend gibt es eine unschöne Auseinandersetzung des ungestümen Antoine (Maurin Ollès) mit seiner seltsam kalten, entfremdeten Mutter Linh (My Chau Nguyen Thi). Der – französische – Vater ist offenbar lange tot, die Mutter flüchtet vor lang verdrängtem Heimweh in Amnesie und Karaoke-Gesang – manchmal verfällt sie in die vietnamesische Sprache, in die der Sohn ihr nicht folgen kann, und plötzliche Tränen. Es folgt eine Rückblende in das Jahr 1956 und in das damalige Saigon (heute Ho Chi Minh Stadt).

Die französischen Besatzer mussten nach der Kapitulation im Indochina-Krieg das Land verlassen und viele, die sich mit dem System arrangiert hatten, fürchteten Repressalien der neuen Regierung. Der junge Háo (Hoang Son Lê) etwa, der französische Lieder singt und sich die Verachtung seiner Verlobten Mai zuzieht. Er wird für 40 Jahre nach Paris entschwinden und sie in unerträglicher Ungewissheit zurücklassen. Hier begegnen wir auch der jungen Linh (Phu Hau Nguyen), für die ebenfalls schwierige Zeiten anbrechen. Sie liebt den kriegstraumatisierten französischen Soldaten Edouard. Mit der Aussicht auf seine weit verzweigte Familie lockt er sie nach Paris. Doch anlässlich der Hochzeitsfeier erfährt sie manch unbequeme Wahrheit.

Das Ringen um Anerkennung

Die Hoffnungen und Sehnsüchte, auch die Not der Exilanten, sie werden von Nguyen über mehr als drei Stunden hochgekocht. Die Geschichten sind fiktiv, könnten sich aber so oder ähnlich sehr gut zugetragen haben. Vor allem die Liebe erweist sich auf Dauer als vertrackt. Das Ringen der Vietnamesen um Anerkennung durch die Franzosen ist spürbar, ebenso deren Schuldkomplex gegenüber den einst Kolonisierten. Hierfür steht etwa die Geschichte der erblindenden Cécile (Adeline Guillot), die sich in aller Unbeholfenheit in Paris des verlorenen Háo annimmt. Auch jene von Louise (Caroline Arrouas), Ehefrau eines Kolonialbeamten, der verantwortlich für das Verschwinden des Sohnes von Marie Antoinette ist.

Nguyen hat all die Gedankenstränge und Biografien aufs Feinste miteinander verzahnt. Mitten in die scheinbare Normalität des alltäglichen Restaurantbetriebs brechen das Politische, Existenzielle, die Identitätskrise mit Macht hinein. Und wird über die Zeitspanne, deren Details die junge Lam mit bedächtiger Stimme immer wieder aus dem Off anmoderiert, eindringlich erfahrbar. Eben noch schweben Luftballons, kurz darauf fliegen die Teller. Die Zeitsprünge durchbrechen das naturalistische Setting, und die fast filmische Erzählweise und verleihen dem Ganzen etwas Surreales. Die einander überlagernden und durchdringenden Handlungsstränge bleiben dabei allezeit nachvollziehbar.

Durchweg herausragende Hauptdarsteller

Während wieder ein Zeitsprung einsetzt, löffelt eine Figur aus der vorherigen Episode in einer Ecke noch ihre Suppe weiter. Wenn eine Person sehr traurig ist, tröstet oft ein Chanson. An Melancholie, ja, auch Pathos und Tragik, spart der Abend nicht. Das Schwere fügt sich dennoch zu einer gewissen Leichtigkeit des Erzählens, ohne die Würde der Figuren anzutasten. Und die sind bei diesen elf durchweg herausragenden Darstellern wirklich sehenswert.

Als die Rückkehr der so genannten „Viet Kieu“ – Háo übersetzt das mit „entfremdete Vietnamesen“ - nach Vietnam nach Aufhebung des amerikanischen Embargos 1996 staatlich erlaubt wird, zeigt sich, dass das keineswegs einfach ist für all die Biografien, in die sich die lange Exilerfahrung nunmehr fest eingeschrieben hat.

„Saigon“ ist auch ein Beispiel für die Stärken freier Produktionen des internationalen Theaters. Innerhalb eines traditionellen Sechswochen-Rhythmus am Stadttheater hätte ein solcher Abend kaum entstehen können.