Hamburg. Die Uraufführung der Romanadaption „Der Boxer“ im Thalia Gaußstraße ist ein überzeugender Theaterabend wider den Nationalismus.

Beim Boxkampf gibt es klare Regeln. „Links-rechts. Rechts-links. Und Deckung! Bis zum Ende“. Jakub Shapiro ist „Der Boxer“, Kämpfer, Gangster und Antiheld des gleichnamigen Romans des gefeierten polnischen Schriftstellers Szczepan Twardoch. Doch für ihn ist der Kampf viel mehr als ein Sport, er ist geradezu identitätsstiftend.

Shapiro ist Jude, und im Warschau der Zwischenkriegszeit des Jahres 1937 wurden diese schon vor dem Einmarsch der Deutschen von polnischen Nationalisten in eigene Viertel gedrängt, bevor sich weitere Diskriminierungen und Boykotte häufen sollten – bis hin zu Deportation und Pogrom.

Der Abend verbindet Text, Spiel und Choreografie

Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak erzählt davon anhand der Uraufführung von Twardochs elegant und mitreißend fließendem Romanstoff im Thalia in der Gaußstraße. Ihr gelingt ein stimmiger Abend, der verblüffend sicher um seine Mittel weiß und gekonnt Text, Spiel und Choreografie mit bedrohlicher Elektronik, mal mit sehnsuchtsvollem Trompetenspiel verblendet.

Marciniak dekonstruiert den Roman in einem silbrig glänzenden Traumlabor (Bühne: Mirek Kaczmarek) mit Resten des Chics der Swinging Twenties, die auch in dem damaligen Melting Pot Warschau wild, schön und sinnenfroh waren. Entsprechend elegant fallen die Glitzer-Roben aus, der edle Zwirn (Kostüme: Julia Kornacka). Wodka, Champagner und Cognac fließen. Der Deckenleuchter aber hat schon Macken. Aus dem umherliegenden Sand schälen sich die Figuren wie Geister der Vergangenheit. Der Sand markiert zugleich einen Sehnsuchtsort, den Strand von Tel Aviv im fernen Palästina, an den sich Anna Blomeier als Jakub Shapiros Frau Emilia träumt.

Boxer Shapiro, ein Dandy des Untergrunds

Das Idyll ist ein brüchiges, im Privaten wie im Politischen. Shapiro liebt eigentlich seine frühe Freundin Ryfka Kij, der Rosa Thormeyer eine grandiose unerbittliche Verzweiflung und Verletzlichkeit verleiht. Sie lieben einander über den Boden rollend, Charleston tanzend, den Jazz von Berlin aufsaugend. Aber Shapiro träumt von einer Familie, die kann Ryfka Kij ihm nicht geben. Also schenkt er ihr ein Bordell, heiratet Emilia und hat mit ihr zwei Söhne, um doch in einer Kammer seines Herzens weiter an Ryfka Kij zu denken.

Shapiros Gangsterboss Kaplica (Oliver Mallison) hat sie einst auf der Straße aufgelesen, und es ist wohl dieser Geruch der bezwungenen Härte des Lebens, der beide für immer vereint. Ryfka Kij wiederum hat sich feine Antennen für gesellschaftliche Zwischentöne bewahrt. Sie wird als einzige das Unheil kommen sehen.

Shapiro selbst ist bei dem grandiosen Sebastian Zimmler ein Getriebener, Zerrissener, ein Dandy des Untergrunds. Aus der Ohnmacht heraus, ein Bürger zweiter Klasse zu sein, erfindet er sich durch Gewalt neu, wird zum unbarmherzigen Meister der Spielregeln, der Frauen, Suff, teure Uhren und einen gelben Opel schätzt. Das bekommen seine Gegner zu spüren.

Anna (Toini Ruhnke) erliegt dem Charme Shapiros

Zunächst der von Sven Schelker gegebene Boxer und aalglatte Großbürger Andrzej Ziembinski, der später miterleben muss, wie seine Schwester wird. Oder der wiederum von Sven Schelker kapriziös gegebene, sexuell ambivalente Faschist Kazimierz Bobinski, der die Juden aus der Armee, am liebsten aber ganz aus dem Land vertreiben will.

Im tiefen Innern hat aber auch Shapiro mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Den Vater des Teenagers Mosche Bernstein (alternierend Goya Brunnert oder Tarik Sanli) metzelt er wegen ausstehender Schutzgelder nieder, nimmt sich aber des Sohnes an.

Boxkampf wird zum Ballett in Slow Motion

Bei Marciniak und ihrer Choreografin Dominika Knapik wird alles zum Tanz auf dem Vulkan. Die Figuren unterstreichen die wohlgeformten Sätze Twardochs mit eindrucksvoller Körperlichkeit. Der Boxkampf wird zum Ballett in Slow Motion. Der Liebesakt erreicht mit opernhaftem Gesang seinen Höhepunkt. Ständig sind Füße in Bewegung, trommeln Hände, Körper fliegen aufeinander zu, tragen einander, gleiten aneinander hinab.

Marciniak erzählt klug von der Selbstbehauptung der drei zentralen Frauenfiguren des Romans. Zwischen den Buchdeckeln sind sie ein wenig flach geraten, die Geliebten, Ehefrauen und Liebenden im Wartestand. Auf der Bühne werden sie zu Kämpferinnen mit ihren eigenen Waffen.

Der Abend offenbart die Gewaltspirale des Faschismus

Es ist ein handlungsgetriebener, bildstarker Abend mit vielen Facetten. Vor allem aber offenbart er anhand berührender Figuren die Gewaltspirale, die der Faschismus schleichend in Gang setzt. Zeigt die vermeintliche Sicherheit, wenn Jakub Shapiro seine Flucht mitsamt der Familie nach Palästina abbricht, sich nicht vertreiben lassen will und trotzig behauptet: „Das ist meine Stadt“.

Das Flugzeugmodell und ein Grab verweisen schon zu Beginn auf das schreckliche Ende der Seinen. Die Gewalt, ob nun ausgeübt von Polen, Deutschen, Europäern oder Nicht-Europäern ist eine universelle Bedrohung. In einer Welt des wiedererstarkten Nationalismus und der zunehmenden Geschichtsvergessenheit erlangt dieser stark gespielte, überzeugende Theaterabend eine besondere Dringlichkeit und wird zu einer kraftvollen Mahnung.

„Der Boxer“ wieder 21.9., 20.00, 22.9., 19.00, 6.10., 19.00, 12.10., 20.00, 13.10., 19.00, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de