Hamburg. Alan Gilbert gibt sein Debüt als Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Das Werk von Ives war eine Herausforderung.
Amtsantrittskonzerte von Chefdirigenten ähneln Beipackzetteln von Medikamenten: Wer möchte, kann viel aus ihnen herauslesen, auch über Risiken, Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten der jeweiligen Wirkstoffe. Oder man schluckt einfach die Pille und wartet geduldig auf die heilende Wirkung.
Die „Opening Night“, mit der sich Alan Gilbert am Freitag in der Elbphilharmonie vorstellte, als der mittlerweile zweite NDR-Elbpilharmonie-Maestro, war einer dieser spektakelnd gedachten Auftakt-Abende, die – am besten sofort – alles zeigen und beweisen sollten. Langes Programm, steile Erwartungen. Kann auch produktiv sein, dieser Druck.
Ganz und gar ging diese Rechnung am Freitag allerdings nicht auf, denn die Slalomfahrt durch Epochen und Stile war neben der mitunter beeindruckenden Leistung vor allem eine To-do-Liste für die kommenden gemeinsamen Spielzeiten. Klar wurde aber: Man will wollen, man will liefern.
Alan Gilbert – elf Jahre als Gastdirigent des NDR-Orchesters
Dass Gilbert und das NDR-Orchester sich noch aneinander gewöhnen müssten und jetzt deswegen eine Schonfrist ansteht – das lässt sich nach elf gemeinsamen Gastdirigent-Jahren nicht mehr behaupten. So begann Brahms‘ Erste dann auch, mit einer fein austarierten Einleitung, in der Gilbert das Klangfarben-Spektrum des Orchesters und die Herzenswärme-Temperatur dieser Musik justierte und scharfstellte. Sein Blick auf Brahms war nicht abgeklärt oder übereifrig, sondern klang nach Aufbruchstimmung.
Angenehm: die bewusste Unaufgeregtheit, mit der sich Gilbert Zeit für das Mitdenken der thematischen Entwicklungen nahm, der Respekt, gerade bei diesem Kern-Repertoire nur ja nichts Wichtiges – also: das Mitsumm-Finalthema, bei dem Hamburger gerührt die Hanseatenmütze zum Gebet abnehmen - zu verstolpern. Sensationell neu, grundsaniert oder gar radikal neu gedacht war dieser Brahms nicht, doch andererseits ist gegen solide Arbeit am bleibenden Wert auch nichts einzuwenden.
Unsuk Chin als Kür des Abends
Nach diesem Pflichtstück, aus dem das Tutti offenkundig Selbstbewusstsein getankt hatte, begann mit einer Uraufführung auch schon die Kür, es folgte die zeitgenössische Ouvertüre für Gilberts konzeptionelle Absichten: Unsuk Chin, NDR-Residenzkomponistin und Hamburger Bachpreis-Trägerin, hatte mit „Frontispiece“ ein Kaleidoskop voller Anregungen und Anspielungen geschrieben, sehr smart collagiert, sehr effektvoll umgesetzt.
Wie sehr Gilbert New Yorker und Kosmopolit ist, schimmerte in Bernsteins „Jeremiah“-Sinfonie durch, einem Jugendwerk, in dem Gilbert feinfühlig und geschmeidig herausarbeitete, wie oft Bernstein zur Inspirationssuche in Partituren von Vorbildern und Kollegen wie Schostakowitsch und Copland geblättert haben dürfte. Rinat Shaham, kurzfristig aus Krankheitsgründen eingesprungen, sang den Solo-Part im Finale mit einer ausdrucksstarken Mischung aus Pathos und Verletzlichkeit.
Gilbert zeigt seine Dompteurleistung
Das ästhetisch forderndste Stück des Abends fand, wie schon bei einer früheren NDR-Aufführung mit Esa-Pekka Salonen, im Halbdunkel statt: Ives‘ „The Unanswered Question“ – elegisches, weltentrücktes Streicher-Raunen aus dem Off, dazu die vier zeternd diskutierenden Flöten auf der Bühne und die immer wieder sinnsuchende Trompete oben im Rang.
Musik, die nicht die Wucht eines gesamten Orchesterapparats benötigt und fordert, sondern die ihre Eindringlichkeit in der Begrenzung auf das Wesentliche findet. Dieses Wesentliche war Gilbert wichtig genug, um so rund 2080 Menschen die Frage nach Sinn und Zweck ihrer Anwesenheit zu stellen.
Und, wenig überraschend eigentlich, war es am Ende Varèses epochaler Kracher „Amériques“, bei dem Gilberts Dirigat die größte analytische Schärfe und Dompteurleistung demonstrierte. Das Riesen-Biest gehorchte und das Feierabend-Bier, mit dem Gilbert zum Schlussapplaus erleichtert auf die Bühne kam, hatte sich der neue Chef hart erarbeitet.