Salzburg. In ihrer finalen Zornesarie als die von Idamante verschmähte Elettra sang Nichole Chevalier alles und jeden an die Wand.
Früher oder später kriegt Teodor Currentzis sie ja alle, könnte man inzwischen glauben, diesmal allerdings war es eher später. Nur einen Abend nach seinem Konzert mit Schostakowitschs Siebenter Sinfonie und dem SWR-Orchester, hier ebenso rasend erfolgreich wie kürzlich in der Elbphilharmonie, stand er im Graben der Felsenreitschule, schon wieder hochtourig unterwegs. Die gleichen exaltierten Gesten, das Aufstampfen, im Parkett gut hörbar.
Nur das Orchester wollte bei diesem „Idomeneo“, Mozarts genialem Frühwerk, zunächst hartnäckig nicht so, wie der Dirigent es ihm bei der ersten Opern-Premiere der diesjährigen Festspiele vortanzte. Nicht Currentzis‘ eigene, treu ergebene und detailbesessen gehorchende musicAeterna-Truppe aus Perm, sondern das Freiburger Barockorchester spielte zunächst einen Mozart von der Stange, die ersten zwei Akte zahmer, glatter, spannungsärmer als erwartet. Fein, das schon, aber auch zu brav, zu unangeschärft, verglichen mit dem ansonsten so aufgeheizten, kompromissbefreiten Currentzis-Mozart. Zu nett, zu wenig.
Regisseur brachte den Chor als Flüchtende auf die Bühne
Und da es die Salzburger Festspiele sind, wo man gelungene Konzepte noch weniger als andernorts aufwärmen darf, weil die gesamte Klassik-Welt sensationssuchend auf die frischen Premieren schaut und hört, durfte man sich hin und wieder schon mal grämen, weil alles so schön hübsch aufgestellt und wiedererkennbar war. Denn für das Thesen-Recycling, passend zum aktualisierenden Problemkern seiner Déjà-vu-Inszenierung, war Peter Sellars als Currentzis‘ Co-Star verantwortlich. Wie 2017, als das Fantasten-Duo eine grandiose „Clemenza di Tito“ auf diese Breitwand-Bühne zauberte, brachte der unverdrossen für Gutes appellierende Regisseur den Chor erneut als Flüchtende auf die Bühne.
Als von der akuten Wirklichkeit geschundene, an den Strand einer für sie neuen Welt geworfene Individuen. Sie trafen erneut auf Absperrungen, Uniformen und Wachen, auf skizzierte Machtstrukturen auf einer fast leeren Fläche. Bedrohte Spielfiguren des Schicksals. Um dessen Pegelschwankungen zu illuminieren, fuhren, wieder, bei allen halbwegs passenden Gelegenheiten blinkende Leuchtröhren aus dem Bühnenboden. Schmal und bläulich gleich Meer, massiv und strahlend gleich Tempel.
Riesige Plastikmüll-Teile über die Fläche gestreut
Für die Erzählung des mythischen Dilemmas – Kretas König Idomeneo soll seinen Sohn Idamante opfern, damit der zürnende Meeresgott von seinem Volk ablässt, tragisch geliebt wird natürlich auch noch, fatalerweise von der trojanischen Prinzessin Ilia, einer Kriegsgefangenen – war das zwar nicht viel, aber ausreichend. Es steht ja prinzipiell alles in und zwischen den Noten. Um zusätzlich Fahrt aufzunehmen, hatten Currentzis und Sellars etliche Secco-Rezitative, die Gemütszustände schildern, aber den Handlungsfortschritt abbremsen, als dramaturgisch überflüssigen Ballast über Bord geworfen.
Zur Bebilderung des für ihn zentralsten „Idomeneo“-Leidmotivs hatte Sellars riesige Plastikmüll-Teile über die Fläche gestreut; auch das Seeungeheuer, das Idomeneos Flotte zu zerstören hat, wird aus Plastik-Blasen erschaffen, wie Frankensteins Monster, nur aus PVC. Und der Frankenstein sind: wir alle.
Etwas viel Meta-Ebene und Diskurs
Hier kam in sehr plakativer Übergröße zusammen, was für diesen Regisseur im Sommer 2019 zwingend zusammengehört: der humanistische Umgang mit Flüchtenden und der selbstkritische Umgang mit dem Klimawandel. Etwas viel Meta-Ebene und Diskurs für eine einzelne Opernaufführung vielleicht, erst recht, da es zwar Untertitel gab, aber nicht auch noch Fußnoten-Einblendungen, um Querverweise und gutgemeinte Hintergedanken zu erhellen, die sich szenisch nicht erschlossen.
Andererseits: Sehr vieles, wenn auch nicht alles rissen die Solisten und der Chor wieder heraus. Natürlich und herzzerreißend intensiv machte Currentzis‘ MusicAeterna-Chor aus jeder Massenszene ein Erlebnis, weil er eben keine nur schön singende Masse war. An den Beginn des dritten Akts hatten Currentzis und Sellars als einen weiteren Eingriff ins Original ein Stück aus der kurz vor „Idomeno“ geschriebenen „Thamos“-Schauspielmusik hineinmontiert: „Ihr Kinder des Staubes, erzittert und bebet“ wurde in die erste Publikumsreihe gesungen, als fridaysforfuturige Warnung vor dem Irrglauben, stärker und klüger sein zu dürfen als die Mächte und Kräfte der Natur.
Große Ballettmusik als weltumspannende Moral-Lektion
Wie schon bei der „Clemenza“ hatte das Ensemble Höhen neben Tiefen. Russell Thomas, damals wie jetzt in der Titelpartie, sang hin und wieder oberhalb von solide, Paula Murrihy als Idamante und Ying Fang als Ilia gaben ihren Rollen leuchtende Größe und anrührende Aufrichtigkeit.
Im Quartett des dritten Akts zeigte Sellars mit der eng gestrickten Beziehungs-Choreographie der vier sich liebenden Haupt-Charaktere, wie gut er eine Partitur verkörpern kann, und Currrentzis dirigierte so einfühlsam und dezent, dass noch die kleinste Nuance zur Geltung kam. Überraschende, großartigste Abräumerin des Abends war jedoch eine der Nebenfiguren. In ihrer finalen Zornesarie als die von Idamante verschmähte Elettra sang Nichole Chevalier alles und jeden an die Wand.
Vor dieser Arkaden-Wand, als eigentliches Finale nach dem versöhnlichen Happy End, nutzen Sellars und Currentzis Mozarts große Ballettmusik als letzte, weltumspannende Moral-Lektion: Ein traditionelles, zugegebenermaßen faszinierendes Tanzritual aus Polynesien sollte daran erinnern, wie großartig und wie klein und zerbrechlich die Welt als großes Ganzes ist, wenn man sich nicht anständig auf ihr benimmt.
Termine: Am 3.9. gibt es mit Currentzis und musicAeterna Mozarts „Così fan tutte“ konzertant beim Musikfest Bremen (Glocke Bremen, Restkarten). Am 17.12. sind Currentzis und das SWR-Orchester mit Mahlers 9. in der Elbphilharmonie (ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse).