Lübeck. Janine Jansen begeisterte beim SHMF-Voreröffnungskonzert in Lübeck. Der Rest des Abends war leider weniger gelungen.

Johann Sebastian Bach, dem das Schleswig-Holstein Musik Festival in diesem Jahr seine Komponisten-Retrospektive widmet, hat ein immenses Oeuvre hinterlassen. Nur eine Sinfonie in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, viersätzig für großes Orchester, die fehlt. Das Genre hat sich einfach erst später entwickelt. Damit schied der Übervater der klassischen westlichen Musik als Lieferant für das Programm der beiden Festival-Eröffnungskonzerte am Wochenende in der Lübecker Musik- und Kongresshalle zunächst aus, denn die finden nun einmal traditionell im Format des guten alten Sinfoniekonzert statt und werden ebenso traditionell vom NDR Elbphilharmonie Orchester bestritten. Deshalb sind die Verantwortlichen darauf verfallen, Bach gleichsam ideell in das Programm einzuführen, nämlich als Bezugspunkt und Inspirationsgeber für Generationen von Komponisten.

Zwischen das Violinkonzert und die vierte Sinfonie von Brahms setzten sie den Chor „Meine Tage aus dem Leide“ aus der Kantate BWV 150 „Nach dir, Herr, verlanget mich“. Damit hat es natürlich seine Bewandtnis. Das selten zu hörende Stück hat die Form einer Ciaccona, das ist ursprünglich ein Tanz aus Südeuropa, der sich in Variationen über einer wiederkehrenden Basslinie immer mehr in Ekstase steigert.

Die vielgepriesene Akustik der MuK überzeugte nicht

Die Basslinie aus dem bewussten Chor hat Brahms im Schlusssatz der Vierten verarbeitet. Um den Zusammenhang zu erkennen, hätte sich der Hörer also über die drei ersten Sinfoniesätze hinweg an die Basslinie des Chorsatzes erinnern müssen. Die Idee war dramaturgisch zumindest anspruchsvoll, wenn nicht verstiegen. Das blieb sie, auch wenn der Dirigent Krzysztof Urbanski am Ende des wenige Minuten kurzen Chors unmittelbar in die Sinfonie überleitete.

Vor allem aber wirkte der Chorsatz selbst zumindest am Voreröffnungsabend des SHMF eher wie ein Fremdkörper. Die vorderen Streicherpulte des Orchesters ergaben noch kein Spezialensemble für Alte Musik, die Geigen klangen grell, es klapperte, und der NDR Chor hinten rechts in der Ecke war irgendwie weit weg. Das Ganze schien eher Feigenblatt zu sein als programmatische Notwendigkeit, und zwar ein schon etwas schrumpeliges Feigenblatt.

Die nachfolgende Sinfonie riss die Sache leider nicht heraus. Brahms’ Vierte, sein weltumspannendes klingendes Vermächtnis, erschütternd und sperrig, ist ein Monument. Sie wirkt für sich, und wie jedes anständige Sinfonieorchester hat auch das NDR Elbphilharmonie Orchester sie selbstverständlich im Repertoire. Die Musiker könnten das Stück wahrscheinlich auch nach durchzechter Nacht morgens um fünf uneingespielt und ungeprobt aufführen. Man kennt einander lange und vertraut einander musikalisch, man hört aufeinander und lässt einander den Vortritt, wo es die Partitur verlangt: All das sind Tugenden, wie man sie bei einem Klangkörper dieses Niveaus voraussetzen darf. Mit ihnen kam das Orchester an diesem Abend schon ziemlich weit, und das war auch gut so. Sehr viel mehr hatte Urbanski dem nämlich nicht hinzuzufügen.

Eine Vierte von der Stange lieferte er ab, mit den dazugehörigen Nachlässigkeiten im Detail. Immer mal franste der Bläsersatz aus, und die Intonation im Choral des tiefen Blechs im letzten Satz zog einem die Schuhe aus, um es mal mit einem Musikerausdruck zu sagen. Es fehlte an der letzten Raffinesse und, noch bedauerlicher, an Dringlichkeit. Urbanski ließ die Musiker in der Komfortzone. Wozu etwas wagen, wenn der Dirigent es nicht verlangt? Also blieben sie für dieses Mal aus, die herzzerreißenden Pianissimi in den Holzbläsersoli und delikate Übergänge, mit denen das Orchester sein Publikum doch so oft in den Bann zu schlagen weiß.

Geigerin spielte volles Risiko

Dabei hatte die Geigerin Janine Jansen in der ersten Konzerthälfte vorgeführt, wie es anders geht. Mehr noch, sie erinnerte mit ihrem Spiel daran, wozu wir diesen ganzen Zirkus eigentlich veranstalten, der sich um die Musik herum etabliert hat mit seinen Marketingstrategien und Hochglanzfotos und Auslastungszahlen: um der existenziellen Erfahrung willen, die Musik bedeuten kann. Jansen lieferte sich dem Violinkonzert mit jeder Faser aus, sie spielte volles Risiko. Sollte es halt mal krachen, sollte mal ein Ton wegbleiben. Phänomenal frei im Ausdruck und nebenbei auf lockere Art technisch perfekt, lotete sie jede Phrase auf ihren seelischen Gehalt aus, wechselte schlaglichtartig zwischen Schmerzensausbrüchen und Intimität, ging an die Grenzen des gerade noch Hörbaren und nahm es in Kauf, dass das Orchester sie immer mal übertönte – ob das womöglich musikalische Absicht war, sei dahingestellt.

Die vielgepriesene Akustik der MuK war nicht gerade freundlich zu Jansen. Der wunderbar erdig grundierte Klang ihrer Stradivari schien dynamisch in ein Loch zu fallen, während Bässe und Pauke im Parkett überpräsent waren. Dem musikalischen Eindruck konnte diese Dysbalance keinen Abbruch tun. Selten hört ein Publikum so gebannt zu. Es war körperlich zu spüren, wie der ganze Saal mit der Solistin fühlte. Der Jubel am Schluss wirkte geradezu befreit. Zum Dank gab Jansen die Sarabande aus der d-Moll-Solopartita von Bach zu, tiefsinnig und mit leichter, kundiger Hand verziert. Eine würdigere Verneigung vor Bach kann man sich nicht wünschen.