Hamburg . Jose Vidal bringt in „Emergenz“ 101 Tänzer auf die Kampnagel-Bühne. Gelungene Eröffnung des diesjährigen Live Art Festivals.
Der Saal kocht gefühlt bereits, als noch kein Tänzer eine Bewegung ausgeführt hat. Bis auf den letzten Platz ist die um Sitze an den Seiten erweiterte große Kampnagelhalle gefüllt. Es ist ein Tanz-Großprojekt, das der chilenische Choreograf Jose Vidal in der Uraufführung von „Emergenz“ verwirklicht. Und eine bessere Eröffnung des diesjährigen Live Art Festivals hätten die Macher kaum finden können.
Zu den pumpenden Rhythmen von Diego Noguera Berger bewegen sich schon bald rekordverdächtige 101 Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, 47 Profis aus Chile und Hamburg sowie 54 Bürgerinnen und Bürger. Die Unterschiede entdeckt nur, wer ganz genau hinschaut. Einige geben Impulse, drehen sich mit empor gereckten Armen, geben eine Richtung vor. Die übrigen folgen unmittelbar. Eine wippende, wogende Masse.
Einheitlich und und doch in Alter und Ausdruck sehr vielfältig. Mal nutzen die Performenden die Diagonale, mal verteilen sie sich zu den Seiten hin. Mit Hilfe einer besonderen Lichtregie, bei der sechs synchronisierte Projektoren auf das Geschehen reagieren, erzeugt Vidal Bilder von Düsternis, Schönheit und Überwältigung.
Einzelkörper bilden einen Organismus
Stärker noch als in seiner Vorgängerarbeit „Frühlingsopfer“ geht es ihm um das Kollektiv als ein organisches Gebilde. Diesmal erhalten die Profis keinen Raum für virtuose solistische Einlagen. Das kann man bedauern, es ist aber konsequent. Mal wirken die Tanzenden wie Amöben, die sich zu Zellhaufen gruppieren. Mal wie eine euphorisierte Masse, wie man sie aus der Clubkultur kennt. Natur und Urbanität. Archaische Assoziationen und eine lebensnahe soziale Erfahrung von Gegenwart. Vidal verbindet all das lebensnah und scheinbar mühelos.
Der Hauptteil der Probenarbeit bestand darin, das Chaos zu bändigen, die Einzelkörper zu einem Ganzen zu formieren, bei dem ein jeder, vom Atem geleitet, auf den Nachbarn reagiert. Auf diese Weise entsteht eine soziale Skulptur, die auch als ein Monument der Hoffnung von den Möglichkeiten eines Schwarms erzählt.
Auch wenn die Choreografie nach dem starken Auftakt ein wenig zu gleichförmig bleibt und erst spät einen Bruch wagt. Da verharren die Tanzenden für einen raren Moment der Ruhe im Dunkel eines Nebelsees, wechseln das Kostüm von Schwarz zu Grau. Und schon nimmt die Bewegung wieder Fahrt auf.
Der in New York und London ausgebildete Jose Vidal erweist sich als Anthropologe des Tanzes, der die reine Bewegungskunst um eine soziologische Komponente erweitert. Das muss man gesehen haben.