Hamburg. Griechischer Star-Dirigent Teodor Currentzis führt zweitausend Menschen im Großen Saal an die Grenzen der Existenz.

Zwei, drei Vorwitzige klatschen los, kaum dass der letzte Akkord verklungen ist, aber sie halten sofort inne. Sie kommen nicht an gegen die große Stille, die im Raum aufsteigt. Zweitausend Menschen lassen sich bannen von dem einen, der sie gerade an die Grenzen der Existenz geführt hat.

Draußen sprießt und blüht und quillt es überall – da bitten im Großen Saal der Elbphilharmonie Teodor Currentzis, sein musicAeterna Chorus of Perm Opera und das Mahler Chamber Orchestra zu einem ganzen Konzert über letzte Dinge. Als der Dirigent auftritt, um das Programm wie abgedruckt mit Morton Feldmans zartem "Madame Press diedlast week at ninety" zu beginnen, wird die Bühne erst einmal dunkel, und wir hören aus dem Off den Bach-Choral "Jesu meine Freude".

Das Publikum ist ergriffen vom Unerwarteten

Wem das zuviel Currentzis-Getue ist, der sei beruhigt: Mehr Extravaganz wird sich der Grieche, Wahlrusse und Liebling sämtlicher Konzertveranstalter der westlichen Welt an diesem Abend nicht gestatten. Ohnehin spricht die Wirkung des Beginns für sich: Das Publikum ist hörbar ergriffen vom Unerwarteten, die Ohren sind geschärft. Dass jemand am verschwindend leisen Ende des Feldman-Stücks die Dreistigkeit hat, sein Handy sekundenlang krakeelen zu lassen, darüber geht Currentzis souverän hinweg.

Solistin liefert sich mit Haut und Haar aus

Mit den ersten Tönen der Alt-Rhapsodie von Brahms ist die Peinlichkeit vergessen. Brahms schrieb das Werk ein Jahr vor seinem Tod, und es klingt, als hätte er schon alles gewusst. Überfallartig fauchen die gedämpften Geigen eingangs ihre Akzente, die Harmonien geben niemals Ruhe. Immer tiefer zieht die Musik den Hörer in eine Klangwelt, in der es keine Sonne mehr zu geben scheint. Die Kombination von Solo-Alt und Männerchor ergibt eine spröde, fast fahle Klangfarbe. Die Solistin Wiebke Lehmkuhl liefert sich der Musik mit Haut und Haar aus. In den Pianissimo-Passagen geht sie an die Grenze des Hörbaren – und der Saal transportiert den Stimmklang trotzdem noch.

Currentzis formt alle Stimmen plastisch

Brahms’ "Deutsches Requiem" wird unter Currentzis’ Händen eine Offenbarung. Das Orchester trägt den Chor auf Händen, man versteht jede Silbe, es ist ein hochsensibles Miteinander. Currentzis muss nichts forcieren, er kann alle Piano-Nuancen ausschöpfen und alle Stimmen plastisch formen. Auch die Sopranistin Nadezhda Pavlova und der Bariton Tobias Berndt singen eher im Geiste eines Ensembles, als sich solistisch zu inszenieren. Stellvertretend für das hinreißende Spiel des Orchesters sei der Klarinettist Vicente Alberola genannt, der am Ende von "Ihr habt nun Traurigkei"“ den Klang seines Instruments unauflöslich mit dem der Sopranistin verschmilzt. Als wollte er das Versprechen des Textes beglaubigen: "Ich will euch wiedersehen".