Hamburg. Der junge Dirigent Gábor Káli sprang im Großen Saal für Grandseigneur Iván Fischer ein und machte seine Sache unfassbar gut.
Kleine Völker sind besonders darauf angewiesen, sich auf die eigene kulturelle Identität zu besinnen. Diese Selbstvergewisserung muss nicht die Fratze des Nationalismus tragen wie die Politik von Ungarns amtierendem Präsidenten. In der Elbphilharmonie war sie jetzt in herzergreifender Anmut zu erleben: Die Mädchen des Kinderchores Cantemus aus dem ungarischen Nyíregyháza stellten sich in Trachtenkleidern zwischen die Musiker des Budapest Festival Orchestra und bezauberten das Publikum mit zwei- und dreistimmigen Chören von Béla Bartók, erst ohne und dann mit Orchesterbegleitung.
Die Musik hat der Komponist in Feldforschungen der ländlichen Bevölkerung abgelauscht, transkribiert und verarbeitet und sich aus diesem Schatz immer wieder bedient. Welch kluge Idee, ausgerechnet diese schlicht-raffinierte Musik in den Mittelpunkt des ersten von zwei Bartók-Abenden zu stellen, für die das Orchester angereist war.
Jedes Liedchen erzählt eine Geschichte
Das Niveau war atemberaubend. Gegen die Komplexität der Lieder ist unser heimisches Volksliedgut nichts als simpel. Mühelos sangen die Mädchen unter Leitung von Dénes Szabó die unregelmäßigen Rhythmen, setzten verschiedene Stimmen gegeneinander, glasklar und mit leicht herbem Timbre. Jede Silbe war zu verstehen, und obwohl sie über die gesamte Bühnenbreite verteilt standen, sangen sie perfekt zusammen. Variierten die Klangfarben und schärften die Kontraste, so dass jedes Liedchen eine kleine Geschichte erzählte. Und das Orchester steuerte hier eine Gegenmelodie und dort einen einsamen Kontrabasstupfer bei, im selben schlichten Tonfall und mit hörbarer Anteilnahme.
Das waren dieselben Musiker, die eingangs des Konzerts Bartóks wüsten „Wunderbaren Mandarin“ von der Kette gelassen hatten. Großstädtisches Verkehrschaos tobte in den wummernden Rhythmen und dem Hupen der Blechbläser, und die Klarinette gab in immer weiter ausziselierten Arabesken das junge Mädchen, das als Köder den armen Mandarin in einen Hinterhalt lockte.
Mitreißende Frische
Der Doyen des Orchesters, der Grandseigneur Iván Fischer, war kurzfristig ausgefallen. Doch der junge Gábor Káli war mehr als irgendein Ersatz. Er bewegte sich genauso natürlich in Bartóks Tonsprache wie die Musiker selbst. Hatte er zum „Mandarin“ den Einsatz quasi im Auftreten gegeben, so stellte er vor dem „Konzert für Orchester“ einen Moment her, wie man ihn in der Elbphilharmonie nur sehr selten erlebt.
In einer endlosen, ruhigen Geste hob er die Hände, und alle, das Orchester und rund zweitausend Zuhörer, folgten ihm atemlos. Und dann ließen die Künstler dieses Werk perlen und bitzeln. Die Oboe betörte mit orientalisch angehauchten Klagen, die Flöte zwitscherte voll Schmelz, Posaunen und Tuba parodierten Volksfeste. Und machten mit ihrer mitreißenden Frische glatt vergessen, dass es da draußen noch so etwas wie Hamburg, Alltag, das eigene Leben gab. Was für ein Abend.