Hamburg/Frankfurt. Ein Projekt an der Alten Oper Frankfurt sorgte für intensive Hörerlebnisse. Künstlerin Marina Abramovic käme damit gern nach Hamburg

Ein ganz gewöhnlicher Konzertabend in der Elbphilharmonie: Bis zu dem Moment, in dem die Musiker die Bühne betreten, werden im Publikum Fotos gemacht, WhatsApp-Nachrichten verschickt und Mails gecheckt. Mancher kann auch in den nächsten zwei Stunden nicht ohne und blickt während des Konzerts immer wieder mehr oder minder heimlich auf sein Smartphone.

Ein ganz anderer Konzertabend in der Alten Oper Frankfurt: Kein Handy klingelt, niemand nimmt Selfies auf, es herrscht eine Atmosphäre gespannter Gelassenheit. Und auch sonst ist hier vieles ungewöhnlich – dank Marina Abramović.

Die 1946 in Belgrad geborene Künstlerin ist ein Weltstar, bekannt geworden durch ihre radikalen Performances, bei denen sie seit den 1970er-Jahren immer wieder die Grenzen der körperlichen und psychischen Belastbarkeit testete. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ihr Stil geändert. Beeinflusst vom Buddhismus liegt ihr Fokus nun auf Entschleunigung und Achtsamkeit, auf dem Stiften von Gemeinschaft. Das zeigt auch ihr aktuelles Projekt „Anders hören“, das am Sonntag in der Alten Oper Frankfurt seinen Abschluss fand. Die etwa 2000 Teilnehmer absolvierten zwei dreistündige Workshops und erlebten dann ein fünfstündiges Konzert, das mit klassischen Regeln und Konzepten brach.

Konzert „jenseits des gängigen Formats“

Hier spielten die Musiker nicht auf einer Bühne, sondern an verschiedenen Orten mitten im Publikum, das teilweise auf weichen Kissen auf dem Boden saß und nach Belieben den Platz wechseln konnte. Das Programm wurde nicht veröffentlicht, auch nicht die Reihenfolge der auftretenden Künstler. In einem an die Besucher verteilten Flyer hieß es, das Anliegen des Projekts sei es, „ein klassisches Konzert jenseits des gängigen Formats zu schaffen, in dem Musik üblicherweise rezipiert wird“. Das Ziel: eine „ungefilterte, authentische Hörerfahrung … unbeeinflusst von Vorwissen oder vorgefassten Haltungen über Komponistin*innen oder Werke.“ Es gab keine traditionelle Aufteilung in zwei Konzerthälften, westliche Klassik mischte sich mit östlicher, auf Applaus nach den Stücken sollte verzichtet werden.

Natürlich handelte es sich hier um kein gewöhnliches Konzertpublikum, das gezielt Karten gekauft hatte, um bestimmte Interpreten und bestimmte Kompositionen zu hören, auch nicht um ein Gelegenheitspublikum, das etwa durch die Architektur des Konzerthauses angezogen wurde. Wer an „Anders hören“ teilnahm, war bereit, sich zu öffnen und auf Neues einzulassen. Immerhin hatten alle Konzertbesucher vorab die Abramović-Methode geübt, hatten etwa an Gehmeditationen in Ultrazeitlupe teilgenommen, eine unüberschaubare Anzahl Reiskörner gezählt, sich mit Hörschutz und Augenbinde durch einen unbekannten Raum bewegt, einander minutenlang in die Augen gesehen oder auf ein einfarbiges Rechteck geschaut – alles in völliger Stille.

Neue Fokussierung durch Musiker-Platzierung

„Um wirklich Musik zu hören, muss man mit allen seinen Sinnen dabei sein“, so das Credo von Marina Abramović. Da reiche es nicht, an der Garderobe die Jacke abzugeben, da solle auch der Alltag draußen bleiben, die so menschliche Dauerbeschäftigung mit Vergangenheit oder Zukunft. Alles, was vom Hier und Jetzt, vom Hören in seiner ganzen Fülle ablenkt, hat bei diesem Konzept keinen Platz. Doch um sich zu befreien, braucht es Übung. Und Übungen. Weshalb vor dem Konzertbeginn in Frankfurt eine gemeinsame Atemübung stand; danach wurden durch Intonation bestimmter Töne die Chakren, Energiezentren des Körpers, für die kommende musikalische Erfahrung geöffnet.

Wenig überraschend, dass beim Marathonkonzert eine sehr konzentrierte Atmosphäre herrschte. Schon die unterschiedliche Platzierung der Musiker sorgte – ähnlich wie beim Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie – für immer neue Fokussierung.

Mindestens ebenso wichtig: Sämtlicher Besucher gaben ihre Smartphones und Uhren ab. Ein inzwischen ungewohntes Glück, dass während der gesamten Konzertdauer nicht ein einziges Klingeln zu hören war und wirklich niemand ein Erinnerungsselfie machte. Für das möglichst offene Hören erwies es sich tatsächlich als gut, den musikalischen Ablauf nicht zu kennen, sondern immer wieder überrascht zu werden. Was blieb, war der Moment. Mancher konnte oder wollte sich dem allerdings nicht bis zum Ende aussetzen, nach den – geschätzt – ersten drei Stunden setzten Abwanderungsbewegungen ein.

„Wir haben unsere Konzentration verloren“

„Nichts ist falsch an Technologie, nichts ist falsch an Handys, aber einiges ist falsch an der Art, wie wir sie benutzen“, sagte Marina Abramović im Gespräch vor Konzertbeginn. „Wir haben heute zu viele Möglichkeiten, können so vieles tun, sehen, kaufen. Deshalb haben wir unser Zentrum, unsere Konzentration verloren.“ Musiker auf der Bühne spürten, wenn Teile des Publikums mehr mit dem Smartphone als mit dem Konzertgeschehen beschäftigt seien, das Energielevel sinke dann merklich – und damit auch die Qualität des Konzerts. „Hier ist allein der Umstand, dass jede einzelne Person den Konzertsaal betritt und ihr Handy nicht bei sich hat, schon ein großer Schritt hin zu einer ganz anderen Erfahrung.“

Ein großer Schritt gewiss, aber wohl noch nicht die volle Distanz auf dem Weg zu neuen Hörerlebnissen. Die Abramović-Methode, die ja vor allem im Achtsamkeitstraining besteht, wolle sie gern an möglichst viele Orte transferieren, unbedingt auch in die „wundervolle“ Elbphilharmonie, man müsse sie lediglich einladen.

Und die Helligkeit im Auditorium, die erlaubt, dass jeder jeden sieht, lenkt die nicht vom Wesentlichen ab? „Am besten wäre es natürlich, wenn alle Besucher schwarze Augenbinden tragen würden. Dann wäre das Hörerlebnis noch viel intensiver.“ Zu früheren Zeiten hätten Konzerte schließlich bei diffusem Kerzenlicht stattgefunden.

In der Alten Oper Frankfurt gab es am Sonntag zwar weder Kerzenlicht noch Augenbinden, dafür aber einen Eindruck davon, welche zusätzliche Innenspannung ein klassisches Konzert durch die entsprechenden Begleitumstände bekommen kann. Am Ende minutenlanger stehender Applaus, bei dem vielleicht auch die Freude der Verbliebenen darüber mitschwang, die fünf Stunden geschafft zu haben. Und nun doch mal wieder kurz aufs Smartphone schauen zu können.