Hamburg. Antú Romero Nunes’ Inszenierung „Eine Familie“ ist am Thalia Theater so deprimierend wie komisch. Ein Fest für die Schauspieler.

Still ist es in der Prärie, unendlich still. Nur die Grillen zirpen, draußen vor dem verdunkelten Haus, und dieses Geräusch lässt die Stille und Abgeschiedenheit umso schmerzhafter wirken. Denn die Prärie ist nicht bloß eine Gegend. Sie ist nicht nur, was vielleicht schlimm genug wäre, das „platte, heiße Nichts“, irgendwo im Nirgendwo von Osage County. Die Prärie ist „ein Bewusstseinszustand, ein spirituelles Leiden“. Man sieht sie nicht in Antú Romero Nunes’ Inszenierung „Eine Familie“ am Thalia Theater, die bei ihm ausschließlich im Inneren eines Hauses spielt. Aber man spürt sie.

„Das ist hier alles eine Zumutung, wirklich“, schimpft Violet. Und damit ist der Kurs des Abends schon mal ganz gut beschrieben, an dessen Beginn Violets Mann Beverly verschwindet. Beverly, ein gescheiterter Autor, wird sich umbringen – allerdings nicht bevor er den Dichter T.S. Eliot zitiert hat, „Die hohlen Männer“, das mit einem berühmten Absatz endet: „Auf diese Art geht die Welt zugrund/Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer“. In Tracy Letts’ „Eine Familie“ (im Original: „August: Osage County“) ist das Gewimmer lauter, anhaltender und grausamer als es ein einzelner Knall je sein könnte.

Vorhang öffnet sich zum ersten Akt

Letts’ Stück, für das er einen Pulitzer Preis gewann und dessen Verfilmung Julia Roberts und Meryl Streep jeweils eine Oscar-Nominierung einbrachte, ist ein „well-made play“, ein Genre, mit dem sich Thalia-Hausregisseur Nunes bislang nicht beschäftigt hatte. Er tut es hier mit Hingabe. Sogar der Vorhang öffnet sich zum ersten Akt – eine am Staatstheater ja fast schon ausgestorbene Kulturtechnik. Dahinter: Ein zweigeschossiges Haus, unten Küche, Bad und Wohnzimmer, viele Bücher (der Hausherr hatte vor 40 Jahren mal einen Lyrikhit), oben der Schlafbereich mit Galerie. Eine schmale, vielgenutzte Treppe verbindet die lebensechten Räume (Bühne: Matthias Koch), ein überdimensionales Jugendporträt der Hausherrin erinnert an bessere Zeiten. Nicht ungemütlich, allerdings auch nur Fassade.

So still es nämlich zum Auftakt ist, so still es auch im „Orpheus“ war, der letzten poetischen Nunes-Inszenierung am Thalia Theater, so wortreich geht es hier zu. Es wird geredet, geschrien, gerannt, beleidigt. Violets Familie ist angerückt, um – ja, was eigentlich: die Witwe zu unterstützen? am Abgrund zu spotten? das eigene Leiden abzugleichen? Violet ist krebskrank und tablettensüchtig, die drei erwachsenen Töchter stecken tief in eigenen Krisen und Lebenslügen. Babs verliert gerade ihre Ehe, Karen will den falschen Mann heiraten, Ivy führt eine Inzest-Beziehung. Violets durchondulierte Schwester ist samt Anhang da, der Verlobte der realitätsfernen Karen begrapscht die schwer pubertierende Nichte – und eine junge Indianerin (Sylvana Seddig), die noch der Verstorbene eingestellt hatte, schleicht wie ein Geist durch die Kulissen und bereitet der skurrilen Trauergesellschaft Südstaaten-Soulfood. Wirkungslos, versteht sich. Die Kränkungen in dieser disfunktionalen Familienaufstellung sitzen zu tief.

Alle sind hysterisch, alle überspannt

Das ist wie Tschechows „Drei Schwestern“ auf Speed. Vergeudete Leben, innere wie äußere Verlassenheit, nur dass aus Oklahoma niemand „nach Moskau“ will, Ivy träumt von New York. Alle sind hysterisch, alle überspannt. Alle zeigen Symptome sozialer Vergiftungen und emotionaler Verwahrlosung. Diagnose: „Prärie“, unheilbar.

Das ist grausam, wenn Violet (die von Karin Neuhäuser wirklich fulminant kaputt gespielt wird) sich in fleischfarbenen Nylons zu Janis Joplins „Cry Baby“ erniedrigt, das ist bitterkomisch, wenn Barbara und Bill (Cathérine Seifert und Felix Knopp) ihren Ehestreit zelebrieren. Sie: „Dieses Irrenhaus ist mein Zuhause!“ – Er: „Und über diesen Satz kannst du jetzt mal nachdenken!“

Karin Neuhäuser ist in Hochform

Aber auch Hass erzeugt bekanntlich Nähe. Karin Neuhäuser ist das Zentrum dieses weiblich bestimmten Irrenhauses, und sie ist in Hochform. Ihren Charakter zeigt sie zugleich feindselig und rettungslos verloren, sie ist vulgär und sie ist zerbrechlich. Die ebenfalls grandiose Cathérine Seifert als ihre zunächst patent wirkende Tochter Barbara steht ihr darin in nichts nach. Vor allem diese beiden Frauenfiguren sind es, die eindrucksvoll realistisch (und bisweilen kaum erträglich) zwischen Abscheu und Selbstekel pendeln, während Barbara selbst immer mehr zum Mutter-Monster mutiert. Es ist stark, wie Nunes dabei mit kleinen Zeichen die Unausweichlichkeit zerstörter Beziehungen sichtbar werden lässt. Die Traumata vererben sich weiter: Der Schürhaken, Machtinstrument schon in Violets Kindheit, droht auch Generationen später.

So deprimierend die Konstellationen jedoch sein mögen, so ausgelassen wird im Publikum gelacht. „Eine Familie“ geht unter die Haut, funktioniert aber als Tragikomödie ganz hervorragend. Auch auf der Langstrecke von dreieinhalb Stunden. Die Dialoge sind scharf und ätzend komisch, das Ensemble trifft Tonfall und Timing und erfindet sich bei Bedarf die eine oder andere Slapstick-Situation hinzu. Es gibt ein Wiedersehen mit Anna Blomeier (deren hopsende Karen an Carrie Bradshaw aus „Sex and the City“ erinnert) und Felix Knopp als hausbackenem Fremdgeher, beide waren unter Ulrich Khuon fest im Ensemble. Gabriela Maria Schmeide spielt mit Lust und Wucht die gehässige Tante Mattie Fae, Björn Meyer überzeugt als ihr Sohn Little Charles. Marina Galic hofft als Ivy so unerschütterlich auf einen Ausweg, dass es zum Verzweifeln ist. Auch die übrigen Parts sind famos besetzt, Toini Ruhnke als pampender Teenie, Rafael Stachowiak als öliger Verlobter mit Ambitionen auf Frischfleisch.

Der Abend ist ein Fest für die Schauspieler – und liefert dazu einen so ausführlichen wie schaurigen Einblick ins Trump-Land, wo die Familie bekanntermaßen ein Wert an sich ist.