Hamburg. Das starke Auswandererstück von Anne Rietschel hatte an einem ungewöhnlichen Ort Premiere.
Zum Beispiel Adele. Adele (Lisa Tschanz) wird von ihrer Vergangenheit verfolgt. Schon in ihrer Schweizer Heimat war sie in einer Anstalt untergebracht, anscheinend hat sie Schlimmes erlebt, und auch in Amerika wird sie die Erinnerungen nicht los. Oder Joseph (Benjamin Lew-Klon), der bei der Einreise in die USA von seiner Familie getrennt wurde und versuchte, schwimmend ans Festland zu gelangen. Oder Carl (Milena Straube), der sich schon in Europa von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob, von Gaunerei zu Gaunerei durchgeschlagen hatte, eine kleinkriminelle Karriere, die er auch in der Neuen Welt verfolgte.
Alle wurden vom Versprechen der Freiheitsstatue „Gebt miR eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen“ zur Auswanderung motiviert. Und mussten feststellen, dass sie nicht mit offenen Armen aufgenommen wurden – ab 1907 verschärften die USA ihre Einreisebestimmungen, insbesondere „Geisteskranke“ wurden sofort abgewiesen. Wobei Geisteskrankheit recht weit gefasst wurde: Kriminelle zählten ebenso dazu wie Prostituierte, Homosexuelle, andere Außenseiter. Viele landeten darauf in Hamburg, in der ehemaligen Klinik Friedrichsberg.
Krankenakten der Rückkehrer dienten als Grundlage
Die Theatermacherin Anne Rietschel hat aus den vorhandenen Krankenakten der Rückkehrer das dokumentarische Stück „Wahnsinn aus Heimweh“ destilliert, passend aufgeführt in einem alten Sektionssaal des Medizinhistorischen Museums. Zunächst als Ausstellung: Das Publikum wandert durch den Raum, bekommt den historischen Kontext über Schautafeln erklärt und betrachtet Artefakte in staubigen Vitrinen. Ein Fernglas, ein Mittel gegen Seekrankheit, eine lebensgroße Puppe sitzt vor einem Berg Kartoffeln, die Tafel informiert, dass Kartoffelschälen eine häufige Beschäftigung in der Anstalt gewesen sei. Aha.
Doch plötzlich ändert sich die bislang leidlich informative Stimmung: Ein an den realen Friedrichsberg-Arzt Wilhelm Weygandt angelehnter Wissenschaftler (Pablo Konrad y Ruopp) erläutert das Vorgehen um die Jahrhundertwende, und währenddessen erwachen die Puppen zum Leben. Und erzählen ihre Geschichten. Schnell wird klar, dass das größte Problem dieser Menschen die Kommunikation ist: 85 Prozent der Rückkehrer sprachen kein Deutsch, und wer halbwegs auf Zack war, konnte als (wenig vertrauenswürdiger) Übersetzer die Situation ausnutzen. Diese Menschen wurden irre daran, dass sie in einer Situation gelandet waren, die sie nicht verstanden und in der sie sich nicht mitteilen konnten.
Die Schauspieler stecken in lebensgroßen Puppen
Rietschel hat mit „Bye Bye Hamburg“ vor fünf Jahren am Thalia schon einmal ein Stück entwickelt, das die Auswanderung nach Amerika thematisierte. „Wahnsinn aus Heimweh“ behandelt als Gegenstück das Scheitern dieser Hoffnung, das in der erzwungenen Rückkehr liegt. Anders als „Bye Bye Hamburg“ illustriert der Abend die geschilderten Biografien aber nicht: Cora Sachs hat die Schauspieler in lebensgroße Puppen gesteckt, man sieht also Modelle, Larven, die Geschichten beispielhaft exekutieren. Die Geschichte eines rigorosen Einwanderungsregimes, die Geschichte einer Gesellschaft, die nur noch Gruppen sieht und keine Menschen mehr. Das macht den formal wie inhaltlich starken, vom Regieduo Sachs und Anton Kurt Krause inszenierten Theaterabend „Wahnsinn aus Heimweh“ zu mehr als nur einer interessanten Geschichtsstunde – es nimmt einen Aspekt der Migration in den Blick, der sich auch leicht auf die aktuelle Diskussion übertragen ließe.
„Wahnsinn aus Heimweh“ wieder am 7./8./9.12., 20.00, Medizinhistorisches
Museum Hamburg, Martinistraße 52
(Haus N30b), www.wahnsinnausheimweh.de
Alle aktuellen Kritiken des Abendblatts