Hamburg. „Stimmen aus dem Exil“ und „#minaret“ thematisieren bei den Thalia-Lessingtagen die menschlichen Tragödien in Krisenregionen.

Die Krux eines Themenfestivals ist ja, dass ein Motto am Ende meist mehr Behauptung bleibt, als sich in Wirklichkeit einzulösen. Für die Thalia-Lessingtage trifft das diesmal vermutlich stärker zu als in den Jahren zuvor. Die diesjährige Ausgabe des Toleranz-Festivals „Um alles in der Welt – Lessingtage 2019“ ist zur Hälfte vorbei. Und auch wenn das Motto „Hear Wor(l)d!“ etwas beliebig gewählt scheint, so präsentieren die eingeladenen Gastspiele doch kraftvolle, höchst unterschiedliche politische Aussagen – mit häufig intensivem Ergebnis.

Brüchige Biografien in „Stimmen aus dem Exil“

Der Gedanke der Aufklärung nach Lessing, er zog sich durch das Wochenende im Thalia in der Gaußstraße, das im Zeichen aktueller Krisen- und Konfliktherde stand. In „Stimmen aus dem Exil – Reisende Dichter I“ haben die Mitglieder der auf dem Höhepunkt des syrischen Bürgerkriegs vom Thalia initiierten „Embassy of Hope“ Texte, Bilder und Lieder zusammengetragen. Erstaunlich eigenständige Ausdrucksformen sind dabei entstanden. Traditionelle Musik trifft auf einfühlsame Texte. „Ich wohnte hier und doch mein Kopf war neben mir. Er war mein Nachbar (...). Mein Charakter, meine eigenen Wüsche, sie waren nicht die meinen. Ich konnte nicht ich selber sein. Musste tun und denken, was die anderen wollen“, rezitiert Thalia-Ensemblemitglied Oda Thormeyer Selbstverfasstes von Lul Mohammad.

Die Texte und die Musik verbinden sich zu einer Montage, die nachdenklich von brüchigen Biografien erzählt. Von Sehnsüchten in der neuen Heimat. Auch von Einsamkeit. „Ich warte auf das Lächeln, das wie der Tod und die Geburt zufällig kommt. Um uns daran zu erinnern, dass die Sonne jeden Tag wieder aufgeht“, liest der Schauspieler Tilo Werner zu einer ästhetischen Schwarz-Weiß-Fotocollage. Schöne, individuelle, poetische Miniaturen kommen zu Gehör, abstrakt genug, um Gedankenräume zu öffnen; konkret genug, um nicht unverständlich zu bleiben. Das von Sophie Pahlke Luz und Mohammed Chunaim eingerichtete Programm lebt von der Abwechslung.

Flucht und Vertreibung

Da reißen drei jugendliche Hip-Hopper mit afghanischen Wurzeln das Publikum mit einem erstaunlich lässigen Auftritt mit. Starken Beifall erntet am Ende die Selbstbehauptung einer jungen Performerin, die szenisch mithilfe eines Tageslichtprojektors von der komplizierten Beziehung zu ihrem Körper und den an ihn gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen erzählt.

Nach den Geschichten von Flucht und Ankommen in der neuen Heimat folgt die Geschichte von der verlassenen Stadt in der alten Heimat: Aleppo in Syrien wurde wie keine zweite zum Symbol für die Verheerungen des Krieges, für die menschliche Vernichtung, aber auch das Zertrümmern von Kulturschätzen. Und es ist durchaus beunruhigend, wenn der libanesische Choreograf Omar Rajeh im Gastspiel „#minaret“ seiner Beiruter Kompanie Maqamat, auf einem blau markierten Bühnenkreis stehend, über sich eine lärmende Drohne sieht. Hartnäckig surrt sie über seinem Kopf und zwingt ihn auf den Boden. Immerhin bleibt er mit seinem Unbehagen nicht allein, die Tänzerinnen Antonia Kruschel, Mia Habis, Yamila Khodr sowie die Tänzer Charlie Prince und Moon-suk Choi gesellen sich zu ihm.

Eher gefühllose Roboter als Menschen

Eine vierköpfige Band verbindet elektronische Störgeräusche mit traditionellen Klängen, eine Stimme dröhnt Unheilvolles aus dem Hintergrund. Die schwarz gekleideten Körper bleiben in ihrer Bewegungssprache zunächst hermetisch. Jeder Tanzende folgt seinem eigenen Rhythmus, alle erinnern eher an gefühllose Roboter als an Menschen. Schließlich werden die Bewegungen radikaler, verzweifelter, wehrhafter.

Das 1000 Jahre alte Minarett der Oajjaden-Moschee, das der Choreografie ihren Titel gab, ist unwiederbringlich verloren. Und mit ihm ein zentrales Wahrzeichen Aleppos. Aber die hier symbolisch tanzenden Stadtbewohner wollen sich davon nicht unterkriegen lassen. Und so vereinen sie auf der Bühne Trauer und Angst mit Widerstand und körperlicher Auflehnung. Mal wirkt die Bühne wie ein Schlachtfeld, von dem die Tänzer einander wie leblose Puppen wegtragen. Die Spuren blauen Lehms wirken an ihren Körpern wie Kriegsschutt. Die Bedrohung, sie hält in Wiederholungen und zunehmend gleichförmigen Bewegungen an. Auch die Zuschauer können sich unter der dominanten, anhaltenden Lärmkulisse nicht wegducken. Auch für sie gibt es hier kein Entkommen.

Eine kraftvolle Stimme in einer chaotischen Welt

Die Lessingtage sind kein Avantgarde-Festival, hinter dem Primat der Inhalte muss die Form manchmal zurückstehen. Das liegt auch an den Bedingungen, unter denen die Kunst mitunter entsteht. Dem Gewinn, unbekannte Ensembles aus fernen Regionen wie etwa Afrika oder dem Nahen Osten zu erleben, steht das Risiko gegenüber, nicht in Europa lebende und arbeitende Weltbürger als verlässliche Festivalnomaden einzuladen. Erhellend ist das oft allemal. Und so betrachtet, erhebt auch „#minaret“ kraftvoll seine Stimme in einer chaotischen Welt.