Hamburg. Für Dirigent Eschenbach wäre ein Leben ohne Musik als Mittelpunkt wohl weder möglich noch sinnstiftend.
Von Zeit zu Zeit ist er immer mal wieder zurück in Hamburg, bei einem seiner inzwischen vielen Orchester. Die Umstände allerdings sind anders als sonst: im so gut wie menschenleeren Hotel Atlantic, im Separee der Bar, auf coronasicherem Abstand. Am Tag vor einem Radio-Konzert mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester geht es beim Gespräch mit dem 81-Jährigen um Themen wie das Lesen von Musik, seine Einstellung zum Glück und zur Heimat.
Hamburger Abendblatt: Kann man das Dirigieren lernen?
Christoph Eschenbach: Bis zu einem gewissen Grad ja, aber es muss ein Fundus von Musikalität angeboren sein, eine angeborene Kommunikationsfähigkeit und eine gewisse Leichtigkeit von körperlicher Bewegung.
Wenn Sie bei einer Probe, sagen wir mal: böse werden, weil es nicht so läuft, wie Sie es gern hätten, werden Sie laut oder leise?
Eschenbach: Ich bemühe mich, nicht böse zu werden. Natürlich feile ich an Nuancen herum und mache es immer so, dass die Musiker verstehen, warum. Dann gibt es keinen Raum mehr, um böse zu werden.
Ihre Einstellung für Auftritte lautet: „Jedes Konzert ist das Konzert.“
Eschenbach: Das geht zurück auf ein japanisches Sprichwort: „Jeder Tag ist der Tag.“ Das heißt, dass jeder Tag so gelebt werden muss, als wenn es keinen anderen oder keinen weiteren Tag gibt. Bis zum letzten möglichen Erlebnispunkt. Wir machen Musik nicht irgendwie, sondern auf den Punkt, wo sie so stattfinden soll, wie man sie sich vorstellt, und nicht anders.
Sie waren in Ihrer Jugend hier in Hamburg oft im Schauspielhaus und haben auch Gustaf Gründgens kennengelernt. Und er war es, der Ihnen die Musik von Mahler empfohlen hat. Wie ist das damals gelaufen?
Eschenbach: Er hatte von mir als Musikstudent gehört. Weil er seine alten Chansons der 20er-Jahre wieder aufnehmen wollte, hatte er mich kontaktiert, zu den Aufnahmen ist es aber leider nie gekommen. Er hat mir eine Platte mit Klemperer und Mahlers Zweiter vorgespielt. Danach fing ich an, mich mit Mahler zu beschäftigen.
Dann war diese Musik Ihr Schlüsselerlebnis, um sich vorzunehmen, irgendwann vom Klavier zum Dirigieren zu wechseln?
Eschenbach: Das hatte mit Mahler nichts zu tun. Ich hatte als Zwölfjähriger in Kiel die Berliner Philharmoniker mit Furtwängler gehört und ich war so fasziniert von dem Phänomen, dass ein Mensch 100 andere Menschen spielen lassen kann, wie Teufel und Engel spielen lassen kann. Daher kam diese Lust und später diese Sucht nach dem Dirigieren, weil ich mit anderen Musikern kommunizieren wollte. In den Jahren meiner beginnenden Klavierkarriere, in denen ich ziemlich um die Welt herumhuschte, hatte ich mich sehr einsam gefühlt. Und so kam ich über die Kammermusik zum Orchester.
Sie haben unglaublich vielen jungen Musikerinnen und Musikern beim Karrierestart geholfen, indem Sie mit ihnen Konzerte gaben.
Eschenbach: So viele waren es nun auch wieder nicht, dann hätte ich keine Zeit mehr für mich selber und die Musik gehabt, wenn ich mich nur als Agent beschäftigt hätte. Ich habe mir immer sehr genau ausgesucht, wer mich faszinierte: Tzimon Barto gehörte dazu, oder Renée Fleming. Ich zeigte ihnen einige Startlöcher und sie haben dann selber ihren Weg verfolgt.
Haben Sie sich jemals geirrt bei dieser Einschätzung?
Eschenbach: Nein, eigentlich nicht. Oberflächliche Musikalität hat mich nicht interessiert.
Lang Lang hat Ihnen in Ravenna, in der Sommerfrische des Chicago Symphony, vorgespielt, mit 16 oder 17. Er hatte eine Riesen-Repertoire-Liste, aber Sie wollten nicht den schweren Rachmaninow hören, sondern lieber einen kleinen Haydn. Eine schöne Idee, um zu checken: Was kann der wirklich?
Eschenbach: Nach einem Konzert, bei dem er für André Watts einsprang und Tschaikowsky spielte, gingen wir noch mal in den Konzertsaal und er spielte mir die Goldberg-Variationen vor. Alle, auswendig und total gearbeitet, im Kopf, in den Fingern.
Sie sind jetzt sportliche 81. Andere würden jetzt so langsam über das Aufhören nachdenken. Sie haben stattdessen 2019 ein neues Orchester übernommen, im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Zum Vergleich: Günter Wand, damals schon nicht mehr ganz jung, war seinerzeit zehn Jahre jünger, als er Chef beim NDR wurde. Wie kam Ihre Entscheidung zustande?
Eschenbach: Ich war viele Jahre in den USA, in Houston und zuletzt in Washington, und wollte wieder zurück nach Europa. Außerdem hat man mir das wie frisch gebackene Brötchen serviert, und da habe ich einfach gesagt: „Ja, das mach ich.“
Der Start mit dem neuen Orchester wurde Ihnen durch Corona verhagelt. Wie baut man Kontakt als neuer Chefdirigent auf, wenn man gar nicht Chef sein kann, weil alles nur darauf hinausläuft, immer wieder Dinge aus dem Kalender werfen zu müssen?
Eschenbach: Wir haben mehrere Streamings und Plattenaufnahmen gemacht, unter anderem auch Musik von Franz Schreker. Und wir haben dem Publikum ein Wunschkonzert angeboten, dafür habe ich 30 Titel ausgesucht, und aus den Meistgewollten haben wir ein Programm zusammengestellt und gesendet.
Von 1998 bis 2004 waren Sie NDR-Chefdirigent, Sie kamen nach Herbert Blomstedt und waren vor Christoph von Dohnányi, Sie gingen also, als es hier gerade interessant wurde, auch wegen und mit und durch die Elbphilharmonie. Haben Sie je bereut, dass sie einen Tick zu früh gegangen sind?
Eschenbach: Es war ein Moment, wo es einfach zu viel wurde, drei Orchester – Philadelphia, NDR und Paris – zu haben. Da musste ich eines aufgeben und habe mit sehr großem Bedauern den NDR aufgegeben, weil die anderen neuer waren. Aber immer, wenn ich zurückkomme zum NDR, erlebe ich ein Gefühl von Familiarität.
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Gibt es das Wort Lampenfieber noch in Ihrem Leben?
Eschenbach: Nein. Früher, als Pianist, da gab es das natürlich. Da kommt es darauf an, dass die Technik, die Fingertechnik, das alles perfekt ist. Das ist manchmal eben nicht so und dann wird man etwas ängstlich, wenn man auf die Bühne geht. Beim Dirigenten ist das nicht so: Wenn Sie von vornherein wissen, was sie mit einer Partitur tun wollen, mit dem Orchester zusammen, gibt es keine Hemmungen.
Kann man der Idee glauben, man müsse erst ein bestimmtes Alter erreicht haben, um einen großen Bruckner dirigieren zu dürfen, oder um die späten Beethoven-Klaviersonaten zu spielen?
Eschenbach: Das finde ich nicht gut, diese Idee, dass man etwas nicht darf, weil man zu jung ist. Was ist das: alt genug? Ist es eine Grundvoraussetzung für den Beruf oder für Erfolg in dem Beruf Dirigent, dass man hart zu sich selbst ist? Schon als Pianist muss man das sein, und sicher auch als Dirigent. Man muss hart zu sich selbst sein, indem man durch das Leben durchgeht. Das ist sicher nicht eines der einfachsten Dinge. Aber ich wäre dagegen, wenn es in Routine enden würde.
Wenn ein Konzert mit einer dieser großen Sinfonien so auf sein Ende zurauscht, was muss das für ein Gefühl sein, wenn man in der Mitte von all dem steht. Es braucht womöglich drei Jahre, um in diesem Moment nicht aus lauter Begeisterung ohnmächtig zu werden. Gewöhnt man sich daran, im Zentrum dieses Sturms zu stehen?
Eschenbach: Dabei hilft eben die Musik. Die Musik hilft über das Gefühl hinwegzukommen, sie als Sturm aufzufassen, der einen wegwehen kann. Und sie hilft einem dabei, sich standfest zu machen. Die Wellen zu ordnen und weiterzugeben.
Und dann fällt man drei Sekunden später in ein fürchterliches Loch, weil es vorbei ist.
Eschenbach: Das kann es geben.
Wie bekommen Sie sich aus diesem Loch wieder heraus?
Eschenbach: (längere Pause) Ich glaube, das hat jeder in sich, dieses Regenerationsvermögen. Das ist auch eine Stärke des künstlerischen Tuns.
Wenn Sie ohne Musik nicht sein können: Man hat als Dirigent ja nicht immer ein Orchester zur Hand. Gehen sie ans Notenregal, lesen Musik und hören sie innerlich?
Eschenbach: Genau. Ich lese die Partitur wie ein Buch.
Ist das ein Ersatz?
Eschenbach: Der äußerliche Klang fehlt, aber der innerlich ist da, wenn ich es lese.
Das ist eine große Freude, vermute ich. Sie brauchen keine Stereoanlage, Sie müssen nicht vor dem Orchester dirigieren, Sie müssen nicht mit dem Konzertmeister herumstreiten. Sie nehmen sich die Partitur und sagen sich: Bruckner Acht. Nur für mich und nur so, wie ich das will.
Eschenbach: Es fehlt der Klang… Es fehlt der Klang.
Sie haben einmal gesagt: „Heimat ist innen, das ist nur in mir.“ Das heißt ja auch, dass Sie sich nirgendwo zu Hause fühlen oder zu Hause gefühlt haben in Ihrem Leben.
Eschenbach: Sie haben recht, das gab es nicht, deswegen habe ich gelernt, das Zuhause, die Heimat in mir zu kreieren und mit mir zu tragen wie einen Koffer.
Was macht aus Musik große Musik?
Eschenbach: Große Musik spricht aus sich selber. Die Größe spricht aus sich selber, man braucht sie gar nicht mit nicht großer Musik zu relativieren.
Und wie macht ein Dirigent aus Musik große Musik?
Eschenbach: Ich habe von Anfang an, auch am Klavier, immer eine Maxime gehabt: Wenn ich mich nicht hundertprozentig mit einem Stück auseinandersetzen konnte und ein Stück mich nicht hundertprozentig überzeugt hat, dann hab ich’s gelassen. Und das war eine gute Überzeugung.
Wenn Sie so an Musik hängen und nicht ohne Musik sein können, muss es das reine Glück sein, eine Minute vor 20 Uhr an der Tür zur Bühne zu stehen, zu wissen: Ich muss da raus, ich kann da raus, ich darf da raus. Ein Orchester, das mir gehorcht. 2000 Menschen, die mir zuhören. Im Prinzip kann ich machen, was ich will. Wer soll mich aufhalten? Ist das ultimative Freiheit oder größtmöglicher Panikauslöser?
Eschenbach: Das ist wirklich ein Glücksgefühl, in das ich mich hineinbegebe. Insofern bin ich ein glücklicher Mensch.
Konzerte: 20.8. Lübeck: Bernstein Award / 21.8. Kiel: SHMF-Orchester, mit Isatah Kanneh Mason (Klavier); www.shmf.de Aktuelle Aufnahmen: Weber: Ouvertüren & Konzertstück. Konzerthaus Orchester, Anna Prohaska (Sopran), Martin Helmchen (Klavier) (Alpha, CD, ca. 16,-). Liszt: Wandererfantasie / Schubert Klaviersonate D 664 / Brahms: Händel-Variationen. Eschenbach, Christopher Park (Klavier), NDR Elbphilharmonie Orchester (Capriccio, CD, ca. 12,-)