Hamburg. Star-Dirigent Andris Nelsons leitete die Bostoner mit einer heiklen Kombination aus Bernstein und Schostakowitsch.
Leonard Bernstein und Dmitri Schostakowitsch, zwei enorm klarsichtige, extrem doppelbödige Klassiker des 20. Jahrhunderts, in einem Programm? Hier der uramerikanische Weltbürger, dort der sowjetische Extremkomponist? Das könnte beinahe unanstrengend schön enden.
Doch für sein Debüt im Großen Saal der Elbphilharmonie verkniff sich das Boston Symphony das flott Populäre und kombinierte stattdessen Heikles, damit die Erkenntnis aus dem Gehörten fundamentaler und radikaler ist. Bernsteins Serenade nach Platon, eine nur oberflächlich eher spröde Herausforderung, und anschließend die Vierte seines Zeitgenossen. Jene Sinfonie, in der sich Schostakowitschs Künstler-Dilemma während der Stalin-Diktatur brutal, unmittelbar und unheilsahnend zerrspiegelte.
Zunächst also ein feingeistiges Gespräch zwischen der nach Antworten suchenden Geige – hier mit großer, inniger Aufrichtigkeit von Baiba Skride gespielt – und einem Orchester. Anschließend ein innerer Monolog, monumental instrumentiert und manisch durch surreal verbogene Tänze und Märsche irrlichternd, bis das ins Nichts ersterbende Ende klarmacht, dass nichts klar ist. Und über 2000 Menschen deswegen eine kleine Ewigkeit lang der Atem stockte.
Nelsons reizt die Schmerzgrenze nicht immer aus
Im März erst hatte Hilary Hahn mit dem Houston Symphony die Bernstein-Serenade gebändigt, indem sie sie als intellektuelle Herausforderung annahm. Skribes Zugang war emotionaler, mit mehr Herzblut und mehr Mut zum expressiven Risiko. Das nahm dem Stück seine Seminar-Strenge und war klarer Kontrast zum Folgenden. Denn dort wurde es garstig. Wohlfühldirigat-Abende kommen anders daher. Doch Andris Nelsons hat mit den Bostonern ein Orchester vor seinem Chefdirigenten-Taktstock, das für diese Herausforderungen ideal ist, um sich keine Gedanken mehr über handwerkliche Herausforderungen machen zu müssen.
Beim BSO, so schien es, kann jeder und jede alles, auch in einem so uneinfachen Saal wie dem der Elbphilharmonie. Feiner noch, sie können das alles ganz unkompliziert wirken lassen. Können brillant ein derartiges Partitur-Monster röntgen, sich bis in die Stille zurücknehmen und im nächsten Moment mit voller Blech-Wucht fast die Weiße Haut von den Wänden hobeln.
Dass Schostakowitschs Vierte so zerfahren und suchend klingt, als hätte eine Mahler-Sinfonie vergessen, ihre Tabletten zu nehmen, diesen Verstörungsaspekt reizte Nelsons nicht immer bis an die Schmerzgrenze aus.
Die Vierte kommt noch zweimal in die Elbhphilharmonie
Nach dem giftigen, bohrend eindringlichen Einstieg sezierte er die episch durchdrehende Sinfonie, stellte jedes scharfkantig geschliffene Detail mit unwiderlegbarer Deutlichkeit vor. Hatten die Streicher sich in einem Fugato an den Rand des Kollapses zu treiben, gelang ihnen das makellos. Hatten die Holzbläser wie ein verrückt gewordenes Uhrwerk loszurattern, war das kein Problem. Ein Albtraum in drei Sätzen in HD. Im Laufe dieser Saison wird die Vierte noch zweimal durch den Großen Saal toben: im Januar mit Gergiev und seinen Münchner Philharmonikern, im April mit dem NDR und Urbanski.
Die Bostoner könnte dann die klangfarbenintensivste der drei Interpretationen gewesen sein. Auf jeden Fall aber ist ihre Hochglanz-Virtuosität schwer zu überbieten.