Hamburg. Schont das Publikum nicht: „Die Geschichte einer Familie“ mit Anna Maria Mühe verhandelt innerfamiliäre Trauer auf einfühlsame Weise.
„Die Geschichte einer Familie“ – genauso unprätentiös und direkt, wie es schon der Titel verheißt, ist der Debütspielfilm von Karsten Dahlem auch. Gemeinsam mit den Darstellenden Anna Maria Mühe, Michael Wittenborn und Anton Spieker präsentierte der Regisseur sein hochgradig realistisches Werk am Dienstagabend im Zeise in Hamburg-Altona.
Quasi als Vorboten dafür, wie intensiv die kommenden 87 Minuten werden würden, informierten Vertreter des Vereins „Verwaiste Eltern und Geschwister Hamburg“ schon vor dem Eingang zum Kino 2 über den Umgang mit innerfamiliären Trauerfällen. Denn mit diesem Themenkomplex – der Individualität von Trauer und Verarbeitung sowie dem erschütternden Ruck, der eine Familie nach einem Todesfall zerbrechen lassen kann – setzt sich „Die Geschichte einer Familie“ auf reflektierte wie einfühlsame Weise auseinander.
Kino Hamburg: „Die Geschichte einer Familie“ schont das Publikum nicht
Auf die bösesten Überraschungen des Lebens ist niemand vorbereitet. Das zeigt Regisseur Dahlem unmissverständlich und ohne das Publikum zu schonen. So beginnt der Film mit einem unglücklich ausgehenden Auto-Stunt von Protagonistin Christina (Anna Maria Mühe), genannt Chrissie, die in der Folge an den Rollstuhl gefesselt und dadurch gezwungen ist, zurück in ihr Elternhaus zu ziehen.
Dort wo noch immer die Größen von Chrissie und ihrem Bruder aus Kindertagen am Türrahmen markiert sind, zwischen alten Bildern und längst vergangenen Erinnerungen ist sie auf ihren nunmehr alkoholkranken Vater Werner (Michael Wittenborn) angewiesen. Die Beziehung der beiden zueinander, die mit einem „Fass mich nicht an!“ von Chrissie beginnt, stellt Dahlem in den Mittelpunkt seines Werks.
Aufgewachsen im Dorf – hier kennt jeder jeden
Nach sieben Jahren findet sich Chrissie also in jenem einfältigen Dorf wieder, in das sie nie zurückkehren wollte. Hier engagieren sich die Leute in der Freiwilligen Feuerwehr oder fahren mit Quads durch die Gegend. Regelmäßig juckelt das Bofrost-Auto die Straßen entlang und die Nachbarn schauen argwöhnisch aus ihren Fenstern. Jeder kennt hier jeden.
Die Antwort darauf, wieso sich Chrissie vor gar nicht allzulanger Zeit scheinbar untrennbar mit diesem Dorf verbunden fühlte, der Ort sie nun aber zentnerschwer belastet, entwickelt der Film in zahlreichen Rückblenden. Dahlem spielt hier mit Momenten des Kommen-Sehens. Das Publikum weiß, was gleich passiert. Die Vorwegnahme ist weder unabsichtlich noch langweilend. Vielmehr vermag der Film damit ein bedrückendes Gefühl der Unausweichlichkeit zu vermitteln.
Wenn die unerschütterliche Festung erstürmt wird
Leitplanken, Straßengräben, Wildwechsel – diese Familiengeschichte könnte immer und überall auf dem Deutschen Land spielen. Nur allzu realistisch hat Dahlem die Lebenswirklichkeit der Dorfbewohner eingefangen. Das kommt nicht von ungefähr. Dahlem selbst ist in einem ganz ähnlichen Dorf wie dem bayrischen Nussdorf, wo „Die Geschichte einer Familie“ gedreht wurde, großgeworden.
Dorf und Familie habe er stets als „unerschütterliche Festung“ wahrgenommen, so Dahlem am Dienstagabend – bis sein bester Freund bei einem Autounfall ums Leben kam. Für jene Erfahrungen habe Dahlem in seinem Regiedebüt eine Sprache finden wollen. Die gezeigten Ereignisse schilderten zwar nicht exakt die Geschichte seines besten Freundes, „aber ein Sammelsurium aus vielen Geschichten, die dort passiert sind“, sagte er.
Rollstuhl-Rolle sieht Anna Maria Mühe als große Verantwortung
Neben der ergreifenden Handlung sind die schauspielerischen Leistungen Anna Maria Mühes als Protagonistin Chrissie und Michael Wittenborns als deren Vater Werner hervorzuheben. Die beiden begegnen dem zurecht dialogarmen Drehbuch mit auf den Punkt gebrachter Mimik und Gestik, die sich in die authentischen Szenenbilder einfügt.
Eine besondere Herausforderung sei der Umgang mit dem Rollstuhl gewesen, erzählte Mühe. Gemeinsam mit zwei Physiotherapeuten habe sie geübt, sich darin ganz natürlich fortzubewegen. Eine Person mit Gehbehinderung auf der Leinwand zu verkörpern, empfinde sie immerhin als große Verantwortung.
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Reichlich Preise für „Die Geschichte einer Familie“ und Anna Maria Mühe
Dahlems Debüt konnte vor Kurzem den Goldpreis für die Beste Regie auf den Hofer Filmtagen abräumen und überzeugte ebenfalls auf dem Filmfest Emden. „Das, was da zu spielen ist, das spielt man nicht einfach so runter“, sagte der Regisseur im Zeise mit Verweis auf seine Darsteller. Konsequenterweise gewinnt Anna Maria Mühe für ihre Darbietung als Chrissie am Donnerstag den Bayerischen Filmpreis in der Kategorie Beste Darstellerin. Sie empfinde das als „unglaubliche Anerkennung“ für „schwere, aber schöne Arbeit“, so Mühe am Dienstagabend.
Übrigens: Die Schauspielerin wird in Kürze ebenfalls in Charly Hübners „Sophia, der Tod und ich“ nach der gleichnamigen Romanvorlage von Musiker Thees Uhlmann neben Dimitrij Schaad und Marc Hosemann auf der Leinwand zu sehen sein. Filmstart ist am 31. August, im Zeise-Open-Air läuft der Streifen in Gegenwart von Charly Hübner bereits am 12. Juli.
„Die Geschichte einer Familie“, 87 Minuten, ab 12 Jahren, produziert von Viafilm mit SWR und NDR, startet am Donnerstag, 15. Juni, in deutschen Kinos.