Hamburg. Das Stück „Mittagsstunde“ wurde auch wegen der Livemusiker in Hamburg zum Erfolg. Bald folgt die Sommerpause. Ortstermin im Studio.
Für die Viehhirten in Nordamerika ist der Cowboyhut Berufskleidung. Er ist leicht, schützt vor Sonne und ist wasserabweisend. Die Hüte mit den breiten Krempen stehen in den USA aber auch für reaktionäre Einstellungen, für Machotum, für Provinz. Auf den Köpfen norddeutscher Dorfbewohner sind sie dagegen Ausdruck einer Sehnsucht nach Weite und Freiheit. In Anna-Sophie Mahlers viel gelobter Inszenierung von Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ sind die Stetsons ein wichtiges Accessoire: für die Line-Dance-Truppe um Schauspieler Björn Meyer, aber auch für die Liveband.
„Die Barracudas“ heißt sie, und sie spielt herzzerreißende Country-Songs, vor allem Westernrock von Neil Young, aber auch deutsche Schlager. Die spuken im Kopf der Hauptfigur Ingwer Feddersen herum. Er sei „eine Hitparade auf zwei Beinen“, sagt der von sich, und meint damit all die Lieblingssongs seiner Mutter Marret, denen er als Kind nicht entkommen konnte.
Levin ist einer der gefragtesten Produzenten Hamburgs
„Es gibt viele Lieder, die stecken einem tief in den Gliedern“, nickt Tobias Levin. Er spielt Bass bei den Barracudas, trägt auf der Bühne einen Cowboyhut, hatte aber in seiner Karriere mit Schlagern bisher wenig zu tun. Levin war in den 1980er- und 90er-Jahren Sänger und Gitarrist der Band Cpt. Kirk, die zur sogenannten Hamburger Schule gehört. Außerdem ist er noch heute einer der gefragtesten Hamburger Produzenten, der unter anderem mit Tocotronic, Kante, Rocko Schamoni und vielen anderen gearbeitet hat. Die anderen „Barracudas“ sind ebenfalls hochkarätige und international gefragte Musiker wie Bandleader Volker Zander und der Multiinstrumentalist Martin Wenk.
Zander hat 14 Jahre lang Bass in der bekannten US-Band Calexico gespielt, Wenk gehört immer noch zu der Combo aus Tucson/Arizona, die in Hamburg regelmäßig Locations wie die Große Freiheit 36 oder die Fabrik ausverkauft und einen Mix aus Country- und Indie-Rock spielt. Vierter im Bunde ist der Schlagzeuger Henning Wandhoff, der früher für die Alternative-Country-Band Fink um den Sänger Nils Koppruch trommelte. Viel internationale Rockgeschichte also auf der Thalia-Bühne.
Zander und Wenk stellten Band in Hamburg zusammen
Jeder der Musiker kennt sich mit Countrymusik und mit dörflichen Strukturen aus, deshalb hat Anna-Sophie Mahler Zander und Wenk gebeten, für die Produktion eine Band zusammenzustellen. Mahler, die ebenfalls eine Zeit lang für Calexico als Geigerin auf Tournee war, ist inzwischen eine erfolgreiche Opern-Regisseurin. Ihr Regie-Konzept für die „Mittagsstunde“ wird von den Songs getragen, sie funktionieren als Gefühlsverstärker von Hansens Figuren. „Jede Form von Ironie muss wegfallen. Wenn wir Marret Feddersen begleiten, müssen wir ihre Schlager genauso ernst nehmen wie wir das mit den Neil-Young-Nummern machen. Auch die Line-Dance-Stücke müssen mit dem größten Respekt gespielt werden“, sagt Volker Zander.
Ein paar Tage nach der bejubelten Premiere von „Mittagsstunde“. Studiotermin mit Tobias Levin in seinem Electric-Avenue-Keller des Westwerks. Volker Zander ist per Zoom aus Köln zugeschaltet, Henning Wandhoff aus Malente. Auch Martin Wenk sollte an dem Gespräch teilnehmen, ist aber just an diesem Morgen in Leipzig Vater von Zwillingen geworden und damit entschuldigt. Die Musiker berichten von der Ernsthaftigkeit, mit der sie sich mit Schlagern auseinandergesetzt haben und auch von der Komplexität dieser Lieder, die auf den ersten Blick simpel klingen, aber doch Tiefe besitzen. „Ein Song, den ich bei den Proben entdeckt habe, ist ‚Ich schau den weißen Wolken nach‘“, sagt Zander. Inspiriert von Lale Andersens ,Lili Marleen‘ hatte Nana Mouskouri damit in den 1960er-Jahren einen Nummer-1-Hit. „Eine tolle Nummer, in der es um Sehnsucht geht.“
„Das musikalische Gegenüber wird überlagert“
Jeder der Musiker hat Kindheitserinnerungen an Schlager, die sich im Kopf festgesetzt haben. Wandhoff zum Beispiel hörte sich als kleiner Junge durch die Single-Sammlung seines Stiefvaters, bevor er sich für englischsprachige Popmusik interessierte. „Ich habe versucht, mich mit Neil Young und den Beatles von dieser schrecklichen – wie ich damals fand – deutschen Musik zu heilen“, erzählt Zander. Genau dasselbe macht die Hauptfigur Ingwer Feddersen (Thomas Niehaus) durch, wenn er auf der Gitarre Country-Songs von Neil Young wie „Old Man“, „Heart Of Gold“ oder „Out On The Weekend“ vor sich hinklimpert.
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„Das musikalische Gegenüber wird überlagert“, nennt Tobias Levin diesen Prozess. „Schlager versuchen, Trost zu geben und persönliche Probleme zu kitten. Das ist beim Country genauso. Aber Neil Young bietet immerhin die Möglichkeit des Aufbruchs.“ In „Out On The Weekend“ packt der Ich-Erzähler seine Sachen zusammen und fährt nach Los Angeles, Ingwer Feddersen schafft es immerhin bis Kiel.
„Mittagsstunde“ in Hamburg ist schon ausverkauft
Die Regisseurin Anna-Maria Mahler hat mit dieser Band eine erstklassige Wahl getroffen. Die vier Musiker haben die Qualität, jedes Lied subtil und sensibel spielen zu können. „Das Bass-Spielen habe ich mir leichter vorgestellt. Ich musste viel dafür tun, die komplexen Innereien der scheinbar oberflächlichen Schlager zu entdecken“, räumt Levin jedoch ein. Lob erhalten die Schauspieler für ihre musikalischen Beiträge von den Profimusikern. Besonders mit Tilo Werner, der im Stück Geige spielt und privat ein glänzender Schlagzeuger ist, hat es bei den Proben konstruktiven Austausch gegeben.
Auch Thomas Niehaus bekommt höchsten Respekt: „Er hat extra Gitarre gelernt, um die Young-Songs spielen zu können“, erzählt Zander. An diesem Wochenende werden die Cowboyhüte nun erneut rausgeholt, vor der Sommerpause wird „Mittagsstunde“ noch zweimal gespielt. Ausverkauft. Die „Barracudas“ werden wohl auch in den kommenden Spielzeiten noch häufig auf der Thalia-Bühne stehen.