Hamburg. Am Schauspielhaus in Hamburg inszeniert Intendantin Karin Beier ein neues, hochaktuelles Stück der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.
Warum sich zaghaft an einen Neubeginn herantasten, wenn auch der ganz große Paukenschlag drin ist? Mit einem brandneuen Theatertext der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek feiert Intendantin Karin Beier an diesem Sonnabend die Wiedereröffnung des Deutschen Schauspielhauses auf der Großen Bühne.
Knapp dreieinhalb Stunden (inklusive einer Pause) wird sie wohl dauern, die Uraufführung von „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ Und das Stück ist nicht nur erstklassig besetzt (unter anderem mit Eva Mattes, Lars Rudolph und Boy-Gobert-Preisträgerin Josefine Israel), sondern auch hochaktuell.
Hamburger Abendblatt: „Lärm“ heißt das Stück, das am Sonnabend Premiere haben wird – sind Sie froh, dass am Schauspielhaus nach sieben langen Monaten endlich die Zeit der Stille vorbei ist?
Karin Beier: Selbstverständlich! Als wir im November für unser Publikum schließen mussten, habe ich nicht damit gerechnet, dass wir den Spielbetrieb so lange einstellen müssen. Wir haben von Monat zu Monat auf eine Öffnung gehofft. Was das Jelinek-Stück anbelangt, hatten wir zunächst eine Uraufführung im April anvisiert. Als das nicht klappte, habe ich gesagt, auch im Mai könnte ich mir die Uraufführung noch gut vorstellen, – aber im Juni fände ich sie fast „verschenkt“, dann sollte man sie vielleicht auf die nächste Saison verschieben. Tja …
Nun wird es doch eine Juni-Premiere. Noch in dieser Spielzeit – aber es fühlt sich an wie ein Saisoneröffnung, oder? Mindestens!
Beier: Ja! Und es fühlt sich toll an, nach so langer Zeit und dieser schönen Marthaler-Premiere im Malersaal nicht mit einer beliebigen Premiere im Großen Haus zu beginnen, sondern mit einer aufregenden Uraufführung. Noch dazu ist es ein riesiges Geschenk, dass dieses Stück von Elfriede Jelinek die Pandemie selbst thematisiert. Und das in der ganzen Bandbreite, die für sie so typisch ist: todernst und hochkomisch, politisch nachdenklich, aber gleichzeitig mit bissigem Humor. Es ist wohl die erste böse Komödie zur Corona-Pandemie. Das ist wirklich aufregend und deshalb freue ich mich sehr auf die Wiedereröffnung. Dabei freue ich mich eigentlich selten auf meine eigenen Premieren! (lacht)
Als das letzte Mal am Schauspielhaus ein Stück von Elfriede Jelinek zur Uraufführung kam, hatten Sie und Ihre Chefdramaturgin nach der Trump-Wahl bei ihr in Wien angerufen und gefragt, ob sie darüber nicht schreiben wolle. Sie wollte nicht – und schickte drei Wochen später 90 Seiten „Am Königsweg“. Wie kam es diesmal zu diesem Stück?
Beier: Soweit ich mich erinnere, haben wir ihr schon vor fast zwei Jahren das Zeichen gegeben: Zu welchem Thema sie auch schreibt, ich selber würde gerne mal wieder ein Stück von ihr inszenieren. Dann hat es etwas länger gedauert und plötzlich kam das Stück, das sie wohl während des ersten Lockdowns geschrieben hat. Und ich musste überlegen, habe ich noch in dieser Saison dafür Zeit und Kraft? Ich habe die Spielzeit ja schon mit der Uraufführung von Rainald Goetz’ „Reich des Todes“ eröffnet. Solche komplexen Werke zur Aufführung zu bringen, ist jedes Mal eine Riesenanstrengung. Aber wie gesagt: Gerade bei diesem Thema war es uns doch sehr wichtig, das Stück noch in dieser Spielzeit unserem Publikum zu präsentieren.
Ist „Lärm“ ein „Corona-Stück“?
Beier: Hm, es so zu nennen, wäre zumindest verkürzt. Elfriede Jelinek spielt ja immer mit verschiedenen Ebenen und Bedeutungen. „Lärm“ meint vordergründig erst einmal das Gerede von Politikerinnen und Politikern, Nachrichten, Meinungen, Verschwörungsideologien, all die Fakten und Fiktionen, die uns im Zusammenhang mit Corona in der medialen und digitalen Welt überschwemmt haben. Mit Corona hat sich unsere Kommunikation ja sehr in die digitalen Medien verschoben, wobei Elfriede Jelinek aufgrund ihrer Agoraphobie ja schon seit Langem auf ihr Zuhause und ihren Computer zurückgeworfen ist. Von daher ist sie eine hervorragende Kennerin dieser Mediengewitter.
Inwiefern spielt das Superspreader-Ereignis von Ischgl eine zentrale Rolle?
Beier: Der Witz ist, dass Jelinek Ischgl mit einem Stoff aus der griechischen Mythologie überblendet, die Antike spielt bei ihr ja oft eine Rolle. In diesem Fall der zehnte Gesang der Odyssee, also die Geschichte von Circe, die Odysseus’ Gefährten in Schweine verwandelt. Als Strafe für ihre hemmungslose Gier – eine Parallele zu den Superspreadern von Ischgl. Zu Ischgl inspiriert hat sie ein Fotoband von Lois Hechenblaikner über das dortige Après-Ski-Treiben, wirklich finster! Ich dachte immer, der Kölner Karneval wäre schlimm. Aber diese Bilder toppen das: Komasaufende, halb nackte Männer und Frauen in überfüllten Diskos, die auch noch „Kuhstall“ oder „Kitzloch“ heißen. Von dort aus wurde die Pandemie durch ganz Europa getragen. Wenn man Hechenblaikners Dokumentation sieht, versteht man warum. Elfriede Jelinek schreibt ja keine Stücke im konventionellen Sinne, sondern Textflächen ohne Regieanweisungen, ohne Figuren, die viele Gedanken- und Bilderwelten assoziativ miteinander verbinden. Die wir dann entschlüsseln müssen.
Einerseits irre toll, weil es alle Freiheiten lässt. Andererseits schmeißt man aus demselben Grund vermutlich zwischendurch mal das Textbuch an die Wand, oder?
Beier: Klar fühlt man sich manchmal überfordert. Wie bei Rainald Goetz. Die Zumutung ist für mich aber ein Geschenk! Man muss sich was einfallen lassen, etwas Eigenes entgegensetzen. Das ist inspirierend, und in diesem Sinne gibt es eben auch Freiheiten und kein Richtig oder Falsch.
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Sie haben sich nicht nur mit Homer und Ischgl, sondern auch mit Verschwörungsmythen beschäftigt.
Beier: Verschwörungsmythen spielen in dem neuen Stück eine große Rolle – und sie haben zurzeit ja wirklich Konjunktur, so bizarr und hanebüchen sie uns auch erscheinen. Darüber kann man lachen. Aber die Penetranz, mit der Jelinek die Verschwörungsgläubigen auch Nöte und Ängste formulieren lässt, die dann zu politisch und gesellschaftlich hochgefährlichen Feindbildern führen, ist spannend. Deswegen habe ich beim Inszenieren überlegt: Wie viel Emotion darf da rein? Ich mag es nicht, diese Phänomene ununterbrochen ironisch zu kommentieren. Mich interessiert auch die Not des Einzelnen – selbst wenn ich ihm mit größter Skepsis gegenüberstehe.
Was uns zum Stücktitel zurückführt: Wer am lautesten lärmt, wird am ehesten gehört – oder übertönt wenigstens die andern?
Beier: Vor allem Letzteres. Alle haben einen unbedingten Wahrheitsanspruch und alle sind gefährdet, anderen nicht zuhören zu wollen. Diese Taubheit und Blindheit für das Gegenüber ist eines der zentralen Stückthemen. Und das birgt natürlich auch Komik. Insofern: Lachen ist auch erlaubt, zumindest lese ich das Stück eben als böse politische Komödie, mit einem hohen Anspruch an die Zuschauer, aber ich finde „Lärm“ etwas heiterer als „Am Königsweg“.
Können Sie mit dem Begriff „mütend“ etwas anfangen? Diese Mischung aus müde und wütend, mit der zuletzt viele ihren Pandemie-Gemütszustand beschrieben haben?
Beier: Ja, diesen Zustand beschreibt das Stück – auf jeden Fall die Wut. Ich persönlich verstehe diese Reaktion, habe aber selbst keinen Platz für Resignation oder Wut. Manchmal hatte ich schlechte Laune, aber im Großen und Ganzen sind wir am Schauspielhaus ja durchaus privilegiert durch die Pandemie gekommen. Trotz der Schließung haben wir intern weiterarbeiten können! Und das Krisenmanagement von Tschentscher für ganz Hamburg war streng, hatte aber positive Folgen. Und jetzt bin ich sowieso hoffnungsfroh.
Auch, was die Rolle des Theaters angeht? Glauben Sie daran, dass es sich nach so langen Schließzeiten, in denen die Bühnen als gesellschaftlicher Raum der Verständigung weitgehend gefehlt haben, wieder erholt? Oder braucht das mehr Zeit?
Beier: Ich glaube, unser Publikum wird gern wiederkommen. Am Anfang vielleicht sogar begeistert, dann wird Normalität eintreten. Hochgradig emotional wird es sicher werden, wenn wir eines Tages wieder vor komplett vollem Haus spielen dürfen.