Martin Walser veröffentlichte fast 70 Jahre lang Bücher. Er sorgte für Debatten und Skandale. Über einen Mann seiner Zeit.
Bei einem Treffen der Gruppe 47, der berühmten, mächtigen Literatenclique, ist Martin Walser erstmals 1951. Damals ist er noch Redakteur beim SDR, der erste Roman wird erst sechs Jahre später erscheinen. Walser sitzt im Ü-Wagen vor dem Veranstaltungsort, als Hans Werner Richter, der Ober-47er, ihn fragt, ob er zurecht komme. Ja, sagt Walser der Legende nach, technisch gehe alles klar, „aber die Lesungen sind sehr schlecht, das taugt alles nichts – ich kann das besser“.
Auch wenn Walser selbst die Begebenheit stets ins Reich der Legenden verwiesen hat, erzählt sie doch einiges über das Selbst- und Sendungsbewusstseins des 1927 in Wasserburg geborenen Schriftstellers. Walser gehörte bald selbst schon zum Kreis der Auserwählten, die in der Gruppe 47 die deutsche Nachkriegsliteratur schufen. Vor allem aber wurde er zum Repräsentanten der Erregungsrepublik Deutschland – und nach Günter Grass zu einem der streitbarsten Intellektuellen des Landes. Dabei war Walser, anders als der Nobelpreisträger, mit seinen Positionierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft ein widersprüchlicher Außenseiter.
Nachruf: Martin Walser – Radikaler Pazifist und zeitweise Kommunist
In Zeiten, in denen das Land auf der Suche nach Identität und Neubeginn war, steckte Walser das Feld des Deutschseins mit für seine Generation geradezu typischen Prägungen und Haltungen ab. Seine Kindheit fiel in die Zeit des Nationalsozialismus, das Ende des Kriegs erlebte er als junger Soldat bei der Wehrmacht. Eine Erfahrung, die ihn zum radikalen Pazifisten ließ – und er, der überzeugte Provinzdichter vom Bodensee, war über weite Strecken außerdem noch eines: Kommunist.
Ein Kommunist, der sich ein Haus kaufte, heiratete, vier Töchter bekam, aber mit seinem Gerechtigkeitsabsolutismus und seiner antiwestlichen Attitüde gut in die aufrührerischen Sechzigerjahre passte. Wo Grass den Realpolitiker gab und für seine EsPeDe brav Wahlkampf machte, war Walser ein zorniger Idealist und Utopist, der von der klassenlosen Gesellschaft träumte. Was Grass bisweilen zur Weißglut brachte. „Die Drecksarbeit, die politische Mühsal (und sie allein bewirkt Veränderungen) überläßt Du huldvoll Deinen Kollegen“, schäumte Grass 1970 mal in einem Brief an Walser. Der nervte auch bei Suhrkamp, Walsers Stammverlag bis zu seinem Aufsehen erregenden Wechsel zu Rowohlt im Jahr 2004, irgendwann alle mit seinem Sozialismusfimmel.
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Als die Linken längst sektiererisch geworden waren, hielt Walser stoisch an alten Überzeugungen fest – was ihn, den vielversprechenden, etablierten Schöpfer der Anselm-Kristlein-Romane zum vorübergehend schwer verkäuflichen Autor machte. Walsers frühe und mittlere Romane („Ehen in Philippsburg“, 1957, „Halbzeit“, 1960, „Jenseits der Liebe“, 1976) beschrieben stets Deutschland, handelten von Geld, Kapitalismus, Ehe, Ehebetrug, Scheitern und Schuld – und waren als Bewusstseinsstudien männlicher, alemannischer Hauptfiguren immer auch biografisch inspiriert.
National-Dichter Martin Walser: Er konkurrierte mit Uwe Johnson um den Spitzenplatz bei Suhrkamp
Bei Suhrkamp gehörte Walser zum Innercircle. Er konkurrierte mit Uwe Johnson jahrzehntelang um den Status als Siegfried Unselds Lieblingsautor – es war ein literaturbetrieblicher Jahrmarkt der Eitelkeiten, bei dem zwischen den freundschaftlichen Rivalen Walser und Johnson (dem „Dichter beider Deutschland“) immer stärker auch politische Differenzen zutage traten. Hier der DDR-Flüchtling Johnson, dort der anti-westliche Sozialismus-Fan Walser, der mit dem Eintritt in die DKP liebäugelte.
Und der es schaffte, sich nach seinen roten Jahren auf ganz andere Weise verdächtig zu machen. Seit Ende der Siebzigerjahre gab der Mann, der viel später noch unschuldig von seiner glücklichen Kindheit im Nationalsozialismus schreiben sollte („Ein springender Brunnen“, 1998), den empfindsamen Patrioten. Mit der Rolle des Deutschlandleiders, der die deutsche Einheit herbeisehnte und damit ein unpopuläres Thema immer wieder auf die Agenda setzte, erfand sich Walser zumindest öffentlich neu. Patriotische Anwandlungen hatte er freilich schon immer und einen Gegenspieler fürs Leben auch. Es war Marcel Reich-Ranicki, die Machtinstanz der deutschen Literaturkritik, die Walsers stramme Deutschland-Mission, diesen „Weg vom anrührenden alemannischen Regionalismus zum ärgerlichen deutschen Nationalismus“, geißelte.
Der Friedenspreis und die nachfolgende Auschwitz-Debatte
Abseits einheitsdeutscher Phantomschmerzen war Martin Walsers Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung schon früh verdienstvoll, weshalb nicht nur im Nachhinein die späteren Anfeindungen einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Walsers Leiden an der deutschen Schuld äußerte sich erstmals nachdrücklich 1965, als er unter dem Eindruck der Frankfurter Auschwitzprozesse über die Individualschuld hinaus das Kollektiv verantwortlich machte.
Die Wunde hielt Walser über Jahrzehnte offen („Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen“), ehe er 1998 mit seiner Friedenspreis-Rede in der Paulskirche nicht nur eine heftige Debatte auslöste und sich den Vorwurf einhandelte, unter Auschwitz einen Schlussstrich ziehen zu wollen, sondern auch die Art und Weise veränderte, wie über den Holocaust gesprochen wurde.
Ignatz Bubis nannte Walser einen „geistigen Brandstifter“
Walser sprach davon, angesichts der „Dauervergegenwärtigung der deutschen Schande“ auch mal wegzuschauen, und kritisierte leere Gedenkroutinen und die „Instrumentalisierung von Auschwitz“ – eine zumal von einem als moralisch integer geltenden Gewissensmenschen noch nie gehörte Ungeheuerlichkeit. Viele fühlten sich getroffen von Walsers schroffer Abkehr von dem, was man Political Correctness nennt. Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden, nannte Walser einen „geistigen Brandstifter“. Lange Zeit später gab Walser zu, diese Rede so nicht wieder halten zu können – und bereute gleichzeitig die Kleinlichkeit, das Versöhnungsangebot von Bubis nicht angenommen zu haben.
Wenn der späte Walser zunehmend als störrischer Querdenker vom Bodensee auftrat, dann agierte er damit nicht zuletzt als in der Tradition der nonkonformistischen Intellektuellen. Er ähnelte dem Serbien-Versteher Handke: Es war ein stetes Anschreiben gegen das Mainstreamdenken.
„Tod eines Kritikers“ rechnete mit einem Intimfeind ab
War Walser nach seinem in jedem Fall folgenreichen Auschwitz-Update ein polarisierender Schriftsteller, so wurde er vier Jahre endgültig später zur literarischen Skandalnudel, gebrandmarkt mit einer der härtesten Aburteilungen, die in diesem Land möglich ist, der des Antisemitismusvorwurfs. In seinem Roman „Tod eines Kritikers“ rechnete Walser gnadenlos mit einem teils mit vernichtender Energie auftretenden Großkritiker ab.
Die „FAZ“ lehnte einen Vorabdruck des Romans ab, in einer aufsehenerregenden Volte identifizierte Frank Schirrmacher, der 1998 noch die Laudatio auf Walser beim Friedenspreis gehalten hatte, die Romanfigur als Marcel Reich-Ranicki. Als denjenigen also, mit dem Walser eine innige Hassliebe verband. Einen der berühmtesten Verrisse der deutschen Literaturgeschichte hatte jener Reich-Ranicki einst einem Walserroman („Jenseits der Liebe“) gewidmet und in der Ableitung des Romantitels mit der Überschrift „Jenseits der Literatur“ versehen.
Für Walser war die Bezeichnung „Heimatschriftsteller“ ein Ehrentitel
Walsers plumpe Rache an dem einflussreichsten aller Literaturkritiker wollten längst nicht alle als die Satire verstehen, die es war – Lesungen fanden fortan nicht selten unter Polizeischutz statt. Damit gab Walser, für der das Wort des „Heimatschriftstellers“ ein Ehrentitel war und dessen berühmtestes Buch „Ein fliehendes Pferd“ (1978) allein eine Million Mal verkauft wurde, der Literatur eine Ereignishaftigkeit, die sie heute nur noch ganz selten hat.
Als impulsiver Deuter deutscher Angelegenheiten wurde er in seinen letzten Lebensjahren milder. Es war die jiddische Literatur, mit der er sich zeitweise viel beschäftigte und die ihn zu einem abschließenden Urteil brachte: Dass „wir, die Deutschen“, die Schuldner der Juden blieben, „bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und Her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen.“
2002 übergab Walser seinen Vorlass an das Deutsche Literaturarchiv Marbach. Und er nahm auch noch an politischen Debatten teil, etwa bei der Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine. Dort blieb er sich treu: Walser gehörte zu den Unterzeichnern eines Offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz, in dem dieser aufgefordert wurde, Waffenlieferungen an die Ukraine zu unterlassen.
Bücher des immens produktiven Autors Walser erschienen auch in den vergangenen Jahren in großer Zahl, zuletzt im Frühjahr ein Band mit Gedichten unter dem Titel „Fisch und Vogel lassen grüßen“. Es sei schwierig, alt zu werden, hat Walser mal gesagt. Man wehre sich „instinktiv“ dagegen, „dass Schluss ist“, sagte er. Seine Waffen gegen den Tod waren die Bücher.
Am 28. Juli ist der deutsche Dichter Martin Walser im Alter von 96 Jahren in Überlingen gestorben.