Von alternden Sängern, einer Jugend in den 70er-Jahren und aberwitzigen Nachrufen - Empfehlungen zu Ishiguro, Henschel, Burside und Ortheil.
Hamburg. Wer den alljährlich frisch aufgeforsteten Bücherwald betritt, wird von Beklemmungsgefühlen heimgesucht. Um diesen Paroli zu bieten, halte ich mich an meine persönlichen Favoriten, auf die ich mal gezielt, mal zufällig stoße. Was die Ausbeute dieses Herbstes angeht, sind meine Vorlieben rasch benannt.
Kazuo Ishiguro zum Beispiel hat mit Bei Einbruch der Nacht (Blessing) erstmals Erzählungen vorgelegt, die über Personen und Schauplätze miteinander verbunden sind. Immer wieder sind es musikalische Motive, die die Hoffnungen und Ängste der Figuren spiegeln. So wie in der in Venedig spielenden Auftaktgeschichte "Crooner", in der ein alternder US-Sänger seiner geliebten Frau Lindy ein Ständchen darbringen will - eines, das, wie sich zeigt, ihre Trennung besiegeln soll. Denn er möchte ihr die Chance geben, sich kurz vor Toresschluss noch einmal einen reichen Gatten zu angeln. Später begegnen wir Lindy in ihrer Klinik für Gesichtschirurgie, wo es zu einer unvergesslichen Truthahn-Szene kommt. Aber die muss jeder selbst lesen.
Ganz anders hingegen Gerhard Henschel, der seinen erinnerungssüchtigen Lesern nun die Fortsetzung des viel gelobten Kindheitsromans schenkt. Im Jugendroman (Hoffmann und Campe) breitet er in Miniaturen ein Zeitpanorama aus, das der Sichtweise des pubertierenden Martin Schlosser Ende der 70er-Jahre folgt. Dieser träumt von einer Profilaufbahn als Fußballer, leidet, wenn Mutter gefüllte Paprika serviert, liest im "Spiegel" staunend nach, was unter dem sexuellen Erleben der Frau zu verstehen sei, und sinniert darüber, wie man einer dieser Frauen - Michaela Vogt - näherkommen könnte. All diese Steinchen setzen sich zum Mosaik zusammen, das über das Leben unter Kanzler Schmidt mehr sagt als viele soziologische Studien.
Mit diesem quasi dokumentarischen Realismus hat der Schotte John Burside nichts gemein. Schauplatz seines Romans Glister (Knaus) ist der Küstenort Innertown. Einstmals sorgte eine Chemiefabrik dort für Wohlstand, doch längst sind deren Anlagen hinfällig. Krankheit, Verfall und Tod walten inzwischen überall, zumal das mysteriöse Verschwinden von fünf Jugendlichen das übrig gebliebene Leben in der "verpesteten, ausgebluteten Stadt" belastet. Ein magisch geheimnisvolles Buch, das in abgründigen Bildern eine Parabel unserer Zeit erzählt.
Gut gefallen hat mir auch Hanns-Josef Ortheils Die Erfindung des Lebens (Luchterhand). Der stark autobiografisch geprägte Roman lässt einen in Rom weilenden Schriftsteller an seine Nachkriegskindheit in Köln und im Westerwald zurückdenken. An Jahre, die davon bestimmt waren, dass der Erzähler und seine Mutter damals mit Stummheit geschlagen waren. Ortheil breitet episch geduldig die Hintergründe dieser Familiengeschichte aus und legt dar, wie zuerst die Musik und dann das Schreiben eine neue Welt eröffnen.
Und da man nicht immer umfangreiche Romane lesen kann, zuletzt das Bändchen Aus die Maus (Kiepenheuer & Witsch). Ungewöhnliche Todesanzeigen haben Matthias Nöllke und Christian Sprang darin gesammelt, aberwitzige Nachrufe, die den oft unfreiwillig komischen Einfallsreichtum von Hinterbliebenen zeigen - wie jenes Bäckersohns, der die Todesanzeige für seinen Vater mit dem Satz "Wer nicht stirbt, hat nie gelebt" betitelt. Eine Weisheit, die man mühelos umformulieren könnte: "Wer nicht liest, hat nie geliebt."